Freitag, 30. Januar 2015

Glückliche Familie Nr. 266: Kinder stark lassen


Oma rief an und sagte, sie hätte schwere Beklemmungen gespürt, als sie las, wir wollten Prinzessin ins Ausland schicken. "Nicht jetzt wird sie gehen", beschwichtigte ich sie, "vielleicht im Sommer 2016."

"Gerade Prinzessin", meinte Oma weiter, "die ist doch so anlehnungsbedürftig." Und ihr sei eingefallen, dass Prinzessin das mit dem Ausland vielleicht nur gesagt hätte, weil Prinzessin wohlmöglich Angst vor dem Zeugnis habe.

Anlehnungsbedürftig? Angst vor dem Zeugnis? Jetzt spürte ich auch Beklemmungen. Ich schrieb hier ein paar Zeilen. Das half aber nicht und ich löschte alles wieder.

Mittags ging mir auf, dass ich - angesteckt von Omas aufrichtiger Sorge - begonnen hatte, mein Kind als schwach anzusehen.

Fühlte sie sich vielleicht weniger begabt, weil der große Bruder schulisch gerade so eine Erfolgssträhne hat?

Ich begann, mich zu sorgen, hatte Mitleid bei der Vorstellung, sie könne sich weniger wertvoll fühlen.

Beim Hack-Anbraten für das Zeugnis-Essen stand ich unterm Dunst-Abzug und es war, als hätte der nicht nur die fettige Dämpfe abgesaugt, sondern auch meine blöden Gedanken.

Weg damit! Mitleid für Prinzessin? Das passt überhaupt nicht. Wir sprechen hier über die Person, die richtig wütend wurde, als meine Schwester ihr beim Tischtennis-Rundlauf im Sommer leichte Bälle zuspielte, damit sie ihren Rückstand aufholen konnte. "Das hat mich tierisch aufgeregt", sagte sie mir später, "ich will keine Punkte geschenkt haben, ich will das selber schaffen." Sie fauchte und gewann die nächste Runde.

Wir sprechen von der Person, die sich Schleife-Binden und Radfahren selber beigebracht hat.

*

Wenn Mütter mehrere Kinder haben, kann es passieren, dass sie eines als schwächer ansehen als das andere oder die anderen. Häufig bleiben sie diesem Kind gegenüber bis weit ins Erwachsenenalter hinein nachgiebiger als den Geschwistern, was dem vermeintlich schwachen Kind nicht gut tut, weil diese Art von Unterstützung aus Mitleid es mehr und mehr in eine Opferrolle bringt.

Helfen kann hilfsbedürftig machen.

Häufig steckt dahinter ein oft unbewusstes Bedürfnis der Mutter oder auch des Vaters, sich unentbehrlich zu machen - manchmal sogar ein Leben lang.

Tief beeindruckt hat mich die Geschichte des körperbehinderten Christian Lohr, die ich in dem Buch "Die Kraft der Ermutigung" von Jürg Frick gelesen habe. Lohr war 1962 ohne Arme und mit missgebildeten Beinen auf die Welt gekommen, weil seiner Mutter in der Schwangerschaft ein Medikament aus der Contergan-Gruppe verschrieben worden war. Trotz seiner Einschränkungen machte er Abitur, studierte Volkswirtschaft, wurde Redakteur bei einer Tageszeitung, engagiert sich politisch und pflegt seine Hobbys Schwimmen, Reisen und Lesen.

"Christian Lohr spürte, dass die Eltern ihn sehr ernst nahmen und die gleichen Anforderungen an ihn stellten wie an den Bruder - er sich aber auch nicht mehr Freiheiten herausnehmen durfte als der Bruder. Zudem waren seine Eltern nicht ängstlich darauf bedacht, ihm möglichst alle Gefahren aus dem Weg zu räumen." (Jürg Frick: Die Kraft der Ermutigung. Grundlagen und Beispiele zur Hilfe und Selbsthilfe. Bern 2007, Seite 153)

Das Beispiel des körperbehinderten Journalisten, bei dem die Eltern offenbar die Kraft hatten, sich nicht in Mitleid und Ängsten zu verlieren, bildet einen starken Kontrast zu immer mehr Eltern, die sich bei ihren völlig gesunden Kindern in größte Sorgen wegen ihrer Schulleistungen, ihrer Selbstbehauptung und beruflichen Chancen hinein steigern.

Vielleicht kommt ein Kind mit dem "System Schule" nicht so zurecht, glänzt aber in anderen Lebensbereichen.

Immer fröhlich vermeiden, eines seiner Kinder in die Schublade "schwach" zu stecken.

Eure Uta


PS1: Liebe Oma, ich weiß, dass du Prinzessin in keiner Weise als "schwach" siehst. Die Vorstellung, das jüngste Enkelkind allein im Ausland zu sehen, ist wohl einfach ungewohnt. Ich kann es mir ja auch noch nicht so richtig vorstellen.

PS2: Das Pixi-Buch "Thomas Schneeanzug" geht ins Allgäu. Herzliche Glückwünsche, Martina! Bitte maile mir deine Adresse, dann kann ich es losschicken.

Ich hatte übrigens eine falsche Erinnerung an die Geschichte. Am Ende steckt nicht die Mutter, sondern die Lehrerin in Thomas Schneeanzug.

Illustration von Michael Martchenko für das Pixi-Buch "Thomas Schneeanzug" von Robert Munsch (Text).