Freitag, 31. Oktober 2014

Glückliche Familie Nr. 249: Die Sitzordnung


Prinzessin (13) erzählte am Anfang der Woche, dass ihre neue Klassenlehrerin die Klassensprecher beauftragt hätte, für eine neue Sitzordnung zu sorgen. Also machten die beiden, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten, eine schriftliche und (eigentlich geheime) Umfrage unter ihren Mitschülern.

Wer ist dein Wunsch-Nachbar?

Wen könntest du auch noch akzeptieren?

Wer geht gar nicht?

Wie bei allem, was als "top secret" gehandelt wird, sickerte in der Klasse durch, wer besonders viele "Geht-gar-nicht"-Nennungen hatte. Prinzessin bekam mit, wie ein Mitschüler einem Mädchen zuraunte,  dass acht Mitschüler sie als diejenige genannt hätten, neben der sie partout nicht sitzen wollten.

Prinzessin fand das unmöglich.

Ich war entsetzt.

Das sind so Ereignisse im Leben, die einem ewig anhaften und einen runterziehen können: "Damals in der Schule war ich das Kind mit den meisten Ablehnungen in meiner Klasse." Schluck.

Ihr könnt eine Umfrage machen in Altersheimen. Es sind solche hoch-emotionalen Erlebnisse, die Menschen in allen Details erinnern, selbst wenn sie 100 sind, Alzheimer haben und ihnen das Wort für "Fernbedienung" nicht mehr einfällt.
Ihr könnt Greise nachts wecken, sie werden den Namen der Lehrerin wissen und den Namen des Schülers, der es raunte, und die Kerben im Tisch, an dem sie gerade saßen, und die drei Fusseln vorne auf ihrem Faltenrock.

Ich war sehr aufgebracht.

Sollte ich die Elternvertreterin anrufen oder die Lehrerin direkt?

Prinzessin war dagegen. Das musste ich respektieren. Und ich konnte das Geschehen ja auch nicht mehr rückgängig machen.


Ganz zufrieden mit dem Sitzpartner - "Pumpkin-people" vor einer Tankstelle in New London (USA).

Am Abend traf ich - in einem anderen Zusammenhang - die Mutter von Thea*, eine der beiden Klassensprecher. Ich sprach sie auf die Vorkommnisse an und sie erzählte, dass ihre Tochter an dem Tag heulend nach Hause gekommen sei, weil einige Mitschüler aus Unzufriedenheit mit ihrem neuen Platz ihr Vorwürfe gemacht hätten. Thea und der andere Klassensprecher waren - kein Wunder - völlig überfordert mit der Situation.

Theas Mutter und ich waren uns einig, dass eine Klassenlehrerin die Verantwortung für die Sitzordnung nicht auf die Klassensprecher abschieben darf. Ein Klassenlehrer ist verantwortlich für die Stimmung in seiner Klasse. Er/sie muss in der Lage sein, diese Gemeinschaft von Kindern zu führen. Das ist tausendmal wichtiger, als dass sie die Umformung ganzrationaler Terme in all ihren Verästelungen beherrschen oder das Gerundium vom Gerundivum unterscheiden können. (Leider haben wenige Gymnasiallehrer diese Auffassung von ihrem Beruf.) 

Für einen Menschen in der Hochpubertät ist die Sitzordnung und alle damit verbundenen Fragen der eigenen Beliebtheit in der Klasse so wichtig wie sonst nichts in der Schule. Gar nichts.

Kathrin* gab jedoch zu bedenken, wie jung die Lehrerin sei. (Erste Stelle nach der Referendarzeit.) Wahrscheinlich habe diese es für eine besonders gute Idee gehalten und glaube, sie habe mit der Aktion das Demokratie-Verständnis der Klasse geweckt. Den Einwand fand ich berechtigt.

Auch Kathrin wollte nicht die Lehrerin anrufen. Erstens sei sie keine "Interventions-Mama". Zweitens stimme sie immer mit Thea ab, ob sie sich schulisch einmische, und Thea sei dagegen.

Ich bin auch keine Interventions-Mama. Das habe ich mir mühsam abgewöhnt seit etwa der zweiten Klasse Grundschule meiner Kinder. (Dabei ist es so befriedigend, Lehrer genüsslich ins Unrecht zu setzen.) 

Aber gibt es nicht gelegentlich Situationen, in denen man den Mund aufmachen muss, damit sich ein solches Ereignis nicht wiederholt?

Ich hasse es, wenn die Realität so komplex ist.

Ich werde mit Prinzessin darüber im Gespräch bleiben. Vielleicht darf ich der Lehrerin mal unter vier Augen erzählen, was die "Aktion Sitzordnung" ausgelöst hat, wenn ich ihr mal über den Weg laufe. Ganz zufällig.

Was mir zu diesem Thema noch so durch den Kopf geht:

  • Beim Googeln fand ich folgenden Tipp für Lehrer: Sie sollten die Schüler dazu ermuntern, sich zu überlegen: Nicht "Wer ist meine beste Freundin?"/"Wer ist mein bester Kumpel?", sondern "Wer ist in der Klasse ein guter Lernpartner für mich?" Das ist häufig ein großer Unterschied. 
  • Das Buch "Fehler übersehen sie nicht - bloß Menschen. Eine Schulgeschichte" von Irmela Wendt fiel mir wieder ein. Es erzählt aus der Sicht eines Jungen in der Grundschule, wie er die mitmenschlichen Konflikte dort erlebt und in welche Zwickmühle Eltern und Lehrer so einen Grundschüler bringen können. Das Buch ist von 1982 und es wirkt auch etwas angestaubt, trotzdem würde ich immer noch empfehlen, es entweder selbst oder mit einem acht- bis 11jährigen Kind zu lesen. Meiner Schwester Nummer Zwei bin ich immer noch dankbar, dass sie mir dieses Buch im März 2004 geschenkt hat. 
  • An meine Freundin Irmgard, inzwischen pensionierte Lehrerin, musste ich wieder denken. Ich glaube, ich habe es schon einmal geschrieben. Macht aber nichts. Auf jeden Fall hat Irmgard mal einer Schülerin, die große Schwierigkeiten mit dem Rechnen hatte, die Postkarte "Mathe ist ein Arschloch" geschenkt. Solche menschenfreundlichen Lehrer brauchen wir! 
  • ... und wir brauchen eine Lehrerausbildung, in der Unterrichtsmanagement, das Führen einer Klasse, Persönlichkeitsbildung für Lehrer und soziales Lernen ganz wesentliche Bestandteile der Ausbildung sind. 
  • An meine Schwester Nummer 1, die auch Lehrerin ist, musste ich denken. Sie erzählte mir neulich, wie sehr es den Zusammenhalt der Klasse fördert, wenn man einen Ausflug in eine "Halfpipe" macht. Sie hätte es sehr anrührend gefunden zu beobachten, wie sich die Schüler gegenseitig die Hand gereicht hätten, wenn der Schwung fehlte, um oben die Plattform zu erreichen. 

    Immer fröhlich die Fehler übersehen, aber nicht die Menschen.

    Eure Uta

    * Namen der Beteiligten geändert.