Montag, 19. Mai 2014

Glückliche Familie Nr. 220: Hampelmann im Zug


Am Wochenende habe ich alte Freunde in Süddeutschland getroffen. Auf der Rückreise wollte ich im ICE auf die Toilette gehen, aber die Glastür zwischen Großraumwagen und dem Gang mit den Abteilen reagierte auf mein Kommen nicht so wie sie auf die anderen Leute reagiert hatte, die vorher durchgegangen waren. Ich fuchtelte oben vor der Lichtschranke herum, trat nach rechts, nach links, vor und zurück. Der Bewegungsmelder ignorierte mich. Ich bin klein, ja. Aber so klein nun auch wieder nicht.

Ich hüpfte, versuchte es mit Klappmessern aus dem Sportunterricht und erschreckte die Glastür mit einem hervorgestoßenem "Buh". Keine Reaktion.

Ich spürte geschätzt 80 Augenpaare in meinem Rücken. Und der Hitze in meinem Gesicht nach zu urteilen, funkten meine Ohrläppchen sozialen Stress in alle Richtungen.

Aber ich konnte doch nicht aufgeben. Ich musste zum Klo. Und alle, die wie ich nach den Geburten damals bei den Beckenbodenübungen geschlampt haben, können sich vorstellen, dass mich meine Grenz-Inkontinenz bei dem Gehüpfe in eine echte Notlage brachte.

Da auch niemand half, der vielleicht deutlichere Schwingungen Richtung Bewegungsmelder senden konnte, blieb mir nichts anderes, als mit hochrotem Kopf umzudrehen, an allen Augenpaaren vorbei zu stolpern und in dem Waggon davor auf die Toilette zu gehen.

Ihr und die Mitreisenden im ICE 76 von Mannheim nach Hamburg Hbf mögt das für eine kleine Begebenheit halten. Aber als ich endlich wieder auf meinem Sitzplatz saß, wurde mir die metaphorische Tragweite dieser Nicht-Reaktion einer Zugtür auf meine Person mit aller Wucht deutlich.

Mir geht es nämlich häufig so, dass ich Außenstehenden - wie jetzt meinen Freunden, die ich am Wochenende traf - nicht rüberbringen kann, dass wir wirklich eine tolle Zeit mit unseren Kindern verbringen, dass ich keinen Zuckerguss darüber kippe und auch nicht damit angeben will. So nach dem Motto: Mein Haus, meine Yacht, meine kongenialen Erziehungsmethoden. Nein!

Aber ich möchte nach Jahren des Kopfzerbrechens, der eigenen Irrläufer, der Sackgassen, nach dem Mama-Burn-Out, den ich hatte, als der Kronprinz sechs und die Prinzessin drei war, nach rasanten Achterbahnfahrten in meiner Beziehung etwas abgeben von dem Glück, das ich heute erlebe. Und dann möchte ich in kleiner Runde meine Begeisterung herüber bringen über die Erkenntnisse, die über die Jahre an Festigkeit und Wirkung gewonnen haben, um sie zu teilen und weiter zu geben, und fühle mich wie bei dem Hampelmann-Gehüpfe vor der Glastür im ICE.

Denn bis auf eine Ausnahme - und der möchte ich an dieser Stelle voller Dankbarkeit zuzwinkern - gucken mich alle an, als würde ich ein Märchen erzählen. Pubertät zum Beispiel halten sie weiterhin für eine unaufhaltbare Naturkatastrophe, durch die alle Eltern durch müssen und dabei mit amüsierter Geringschätzung auf die Kinder herab blicken dürfen. Dabei sprechen sie von den Jugendlichen als hätten diese nichts anderes im Sinn, als ihren Eltern das Leben schwer zu machen.

Und hier kommt wieder ein Zitat aus dem Hörbuch "Familienberatung" von Jesper Juul ins Spiel:
"Das Wichtigste, das Kindern von ihren Eltern erfahren, geschieht in den ersten drei bis vier Lebensjahren. Und in den nächsten sechs bis sieben Jahren ist die Erziehung der Eltern, ihr exemplarisches Verhalten und ihre Lebensqualität immer noch von großem Einfluss. Danach sind Gleichaltrige und andere Erwachsene ihre wichtigsten Inspirationsquellen. Zu diesem Zeitpunkt sollten die Eltern sich selbst und ihren Kindern den Gefallen tun, sich zurück zu lehnen und das Resultat ihrer Bemühungen zu genießen."
(Jesper Juul, "Familienberatung. Perspektiven und Prozess." Stelle nach 2 Stunden,42 Minuten)

Das möchte ich noch mit Inhalt füllen:

  • viel Zeit und Liebe in die ersten Jahre investieren
  • aber nicht im Sinne einer Panik "Oh je, da schließt sich wieder ein Entwicklungsfenster."
  • auch keine Englischkurse für Zweijährige oder sonstige zweifelhaften "Bildungs"-Programme
  • auch keine permanente Angst, dass in der Erziehung dieses oder jenes falsch läuft, die Methoden-Frage ist gar nicht so wichtig
  • es geht viel mehr um eine beiläufige und liebevolle Präsens, um viel körperliche Nähe, um Teilhaben, Spaß haben, sich an einander freuen 
  • und wenn sie dann 12 oder 13 Jahre alt sind, wie ein Sparringspartner beim Boxen bereit sein, eigene Standpunkte zu vertreten, aber aufgeben, das Kind in irgendeiner Weise formen zu wollen

Sogar im Schlaf funktioniert das beste Förderprogramm der Welt: Nähe.


Vor dem Hintergrund, wie wichtig elterliche Präsenz in den ersten Jahren ist, irritiert mich sehr, was mir meine Friseurin neulich erzählte. Sie bekommt in diesem Sommer ihr erstes Kind und hat mit ihrem Mann zusammen sich jetzt schon Kitas angeguckt, um einige Monate nach der Geburt wieder arbeiten gehen zu können. Die Kita, die ihnen insgesamt am besten gefiel, hat nur einen Haken: Meine Friseurin darf ihr Baby an ihrem einzigen freien Tag am Montag nicht zu Hause lassen und Zeit mit ihm verbringen, weil die Leiterin der Kita ihr sagte, dass eine solche Unterbrechung der Kita-Betreuung durch die Mutter am Montag nicht ins pädagogische Konzept passe.

Jetzt sind wir schon so weit, dass wir die Trennung von der Mutter zum pädagogischen Konzept erklären.

Immer fröhlich nicht die Fassung verlieren.


Eure Uta


Ps 1.: Ich überlege, ab nächste Woche jeden Dienstag einen Post einzustellen, also verlässlich einmal die Woche immer am gleichen Tag, damit ihr nicht immer gucken müsst, ob es etwas Neues gibt. Was haltet ihr davon?

Ps.: 2: Auf dem Blog der freiberuflichen Kinder- und Jugendbuch-Autorin Dorthe ist eines ihrer schönen Bücher zu gewinnen. Da ihr Blog - unverdientermaßen - noch wenig bekannt ist, gibt es heute noch bis Mitternacht eine fast 100prozentige Gewinn-Chance. klick!