Dienstag, 29. April 2014

Glückliche Familie Nr. 216: Lesen am Meer


Zu meinem Post über Selbstgefühl und Selbstwertgefühl schrieb Kinderjubel in einem Kommentar:

In vielen Fällen (...) muss unsere Generation erkennen, dass sie das, was sie bekommen hat, nicht an die eigenen Kindern weitergeben will.  (...). Es ist aber oft schwierig etwas zu geben, was man selber nicht bekommen hat ...

"Kinderjubel" spricht damit eine Frage an, die mich immer wieder beschäftigt: Wie schaffen es Menschen trotz schwierigster Umstände, ihr Leben in die Hand zu nehmen und zu entscheiden, dass sie größer sind als das, was ihnen - auch als Kind - widerfahren ist?

Denn diese Menschen gibt es ja, Menschen, die geben können, was sie als Kinder selber nicht bekommen haben. 

Ich denke an Eva Mozes Kor. Zusammen mit ihrer Schwester Miriam gehörte sie in Auschwitz zu den Kindern, an denen Josef Mengele seine grausamen Zwillingsforschungen vornahm. Kann man sich größere Demütigungen vorstellen? Gibt es einen größeren Angriff auf das Selbstgefühl als im KZ als Kind wie ein Stück Vieh behandelt zu werden? 

Eva Mozes Kor hat das KZ überlebt. Sie gründete später eine Organisation, die weltweit die "Mengele-Zwillinge" aufspürte und half, ihre Erlebnisse aufzuarbeiten. Zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz traf sie sich mit einem der KZ-Ärzte von damals zu einer Geste der Vergebung. Opfer und Täter brachten ihre Kinder und Kindeskinder zu diesem Treffen mit, aus der Überzeugung, dass nur Vergebung verhindern kann, dass sich solche Ereignisse wiederholen. In ihrer Rede anlässlich eines Symposiums über Biowissenschaften und Menschenversuche 2001 in Berlin schildert sie dieses Treffen. Für mich ist das eines der bewegendsten Dokumente überhaupt. 

Wie kam Eva Mozes Kor zu dieser Stärke? Sie war zehn Jahre alt, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. Hatte sie bis dahin eine so liebevolle und das Selbstgefühl stärkende Kindheit, das sie über sich hinauswachsen konnte? Hat es ihr vielleicht Kraft gegeben, dass sie ihre Auschwitz-Erlebnisse als ihr Schicksal annehmen und daraus ihre persönliche Lebensaufgabe entwickeln konnte, also eine Organisation zur Aufarbeitung und Versöhnung gründete?

Eva Mozes Kor hat ihre Erlebnisse aufgearbeitet, aber sie ist nicht stecken geblieben in ihrer Trauer, sondern hat sie umgewandelt in Taten. Das bewundere ich sehr. Denn sie hat etwas gegeben, was sie selber nicht bekommen hat.

Wir verbringen gerade ein paar Tage Urlaub in Dänemark und dahin habe ich das Buch "...trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager" von Viktor E. Frankl mitgenommen. "Das ist ja eine heitere Urlaubslektüre", werdet ihr sagen. Aber wenn man herausfinden möchte, ob man etwas weitergeben kann, was man selber nicht bekommen hat, helfen vielleicht die extremen Beispiele weiter.

An diesem Platz lässt sich auch schwere Kost verdauen. Dort liegt allerdings gerade nicht das Frankl-Buch, sondern Ortheils "Die große Liebe".

Frankl also war schon ein bekannter Psychiater in Wien, als er wegen seiner jüdischen Abstammung in das Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Bis zur Befreiung Ende April 1945 verbrachte er zweieinhalb Jahre in verschiedenen Konzentrationslagern. Anders als seine Frau, seine Eltern und sein Bruder, die alle in Lagern ermordet wurden, überlebte er knapp die Nazi-Greuel.  

Was Frankl in dieser ganzen Zeit mehr oder weniger aufrecht hielt, war unter anderem die Vorstellung, wie er später in einem schönen, warmen Vortragssaal über seine Erlebnisse im KZ berichten würde und wie er seinem weiteren Leben Sinn dadurch geben könnte, dass er dieses unvorstellbare Leid erleben musste und daraus Lehren ziehen würde. Er schöpfte Kraft dadurch, dass er seinem Leiden Sinn gab.
"Was hier not tut, ist eine Wendung in der ganzen Fragestellung nach dem Sinn des Lebens: Wir müssen lernen und die verzweifelnden Menschen lehren, dass es eigentlich nie und nimmer darauf ankommt, was wir vom Leben noch zu erwarten haben, vielmehr lediglich darauf: was das Leben von uns erwartet!" (Viktor E. Frankl: ... trotzdem Ja zum Leben sagen. München 2013, 5. Auflage, S. 117)
Nach seiner Befreiung hat sich Frankl dieses Buch innerhalb von neun Tagen von der Seele geschrieben. Später entwickelte er eine Therapieform, die Logotherapie, die auch auf das  zurückzuführen ist, was er im Konzentrationslager erlebte. Denn sie stellt nicht die Trauer über Erlittenes in den Vordergrund einer Behandlung, sondern den "Logos", den Sinn, den sich jemand für seine Leben erschließen kann.

Wieder zu Hause möchte ich mehr über die Logotherapie lesen. Ich werde davon berichten.

Und welche Lehre ziehe ich aus dem am Meer Gelesenen? Dass man einbringt, wer man ist und was man erlebt hat, es anderen zunutze macht und sich nicht damit rausredet, dass man von zu Hause nicht das Selbstbewusstsein mitbekommen habe, die Dinge zu tun, die man tun könnte.

Immer fröhlich bleiben.

Eure Uta

Ps: Wenn man beim Schreiben aufs Meer blicken kann, werden die Themen wohl einfach größer. Liebe Amalie, vielen Dank für den wunderbaren Ferienhaus-Tipp! Es ist der Hammer.