Samstag, 11. Januar 2014

Glückliche Familie Nr. 192: Das Kann-Kind


Ich hatte hier versprochen, unsere Schulgeschichte zu erzählen.

Der Kronprinz (heute 16) war ein "Kann-Kind". Nicht nur ein Kind, das in den Augen seiner verliebten (und deshalb unzurechnungsfähigen) Eltern alles kann, sondern auch im Oktober geboren ist und deshalb im Alter von fünf Jahren eingeschult werden "konnte".

Wie alle Eltern fanden und finden wir unseren Kronprinzen ganz besonders begabt und waren fest davon überzeugt, dass sich dieses Kind nicht länger mit dem Babykram im Kindergarten herumschlagen und deshalb früher eingeschult werden sollte.

Der Leiter der Grundschule ließ den Prinzen ein Bild malen und befand ihn nach wenigen Strichen für schulreif, was wohl auch damit zusammenhing, dass der Mann Argumente brauchte für die Schulerweiterung von zwei- auf dreizügig.

Später erfuhren wir, dass er jeden Fünfjährigen für schulreif erklärte, der ihm unter die Buntstifte kam. Aber wir waren so gebauchpinselt (siehe elterliche Unzurechnungsfähigkeit), dass wir den Rektor für scharfsinnig hielten.

Bei der Einschulungsfeier stand der kleine Prinz mit seiner Schultüte auf der Bühne und sah aus wie ein Gulliver, der für einen Riesen die Eiswaffel hält.

Die Schule begann. Unser Sohn bekam eine Lehrerin, deren Methoden uns an eine Kaderschmiede östlicher Prägung erinnerten. Kaum hatten die Kinder die ersten Buchstaben gelernt, veranstaltete die Lehrerin Lesewettbewerbe. Jungen und Mädchen mussten nach vorne kommen und Wörter lesen. Und die, die schon vor Beginn der Schule lesen konnten, wurden mit Medaillen in Gold, Silber oder Bronze dekoriert.

Lesen für Olympia.

Der Kronprinz bekam Albträume, wachte nachts schreiend auf, malte Bilder von Hexen, die stark nach "Madame Lesewettbewerb" aussahen.


Die Hexen-Bilder habe ich nicht mehr gefunden. Die haben wir wohl alle verbrannt. Dafür zeige ich euch hier mein Lieblingslings-Werk des Prinzen.  "Marmelade im Kühlschrank" entstand, als er gerade vier war. 

Ich versuchte, ihm mit Üben zu helfen.

Klebte ein großes "L" an die Lllllllampe, ein "K" ans Kkkkkkklavier und ein "P" an den Pppppapa, dachte mir eine Buchstaben-Schnitzel-Jagd aus, versteckte "Wort-Schätze" im Garten und "Silben-Salat" im Heizungskeller.

Uta war zwar verzweifelt, aber auch ganz in ihrem Element.

Das Üben half jedoch nichts.

Der kleine Prinz, der schon im Alter von drei Jahren elegant den Konjunktiv einsetzte, wollte weder Lesen noch Schreiben lernen.

Nach nur zweieinhalb Monaten nahmen wir ihn von der Schule. In den alten Kindergarten konnte er aus Platzgründen nicht zurück, eine nahe gelegene Vorschule war auch voll. Mit Mühe fanden wir noch einmal einen Kindergartenplatz für unseren "Großen".

Das Schönste in dieser Zeit war der Moment, als wir beide seine Bilder von "Madame Lesewettbewerb" in den Feuerkorb auf der Terrasse steckten und sie verbrannten.

Danach ging es uns besser.

Ein Jahr später wurde er in der benachbarten Grundschule eingeschult und bekam eine mütterlich-liebevolle Lehrerin. Seit diesem Neustart ging er gerne zur Schule. Lesen, Schreiben, Rechnen war kein Problem mehr.

Und war dieser verpatzte Start Fluch oder Segen?

Heute sagen wir, dass es ein Segen war. Hätte er nicht diese Drill-Dame bekommen, hätten wir ihn nicht um ein Jahr zurück genommen. Dann hätte er sich weiter durchbeißen müssen und die Qual wäre mit hoch gewachsen bis zum Schulabschluss.
"In eigenen Untersuchungen zur Frage, ob Kinder mit fünf Jahren schon schulreif sind, haben wir in großer Breite festgestellt, dass die intellektuelle Reife oft schon da ist, nicht aber die soziale Reife, um im System Schule zu überleben",
schreibt Hans-Dietrich Raapke in seinem Buch "Montessori heute. Eine moderne Pädagogik für Familie, Kindergarten und Schule", Reinbek 2001. Damals habe ich mir dieses Buch gekauft, weil ich Maria Montessoris Erkenntnisse über die "sensiblen Phasen" der Entwicklung bei Kindern sehr erhellend fand.

Abgesehen davon, dass die wenigsten Menschen heute die soziale Reife im Blick haben, hat man als Eltern eines Fünfjährigen auch die Pubertät noch nicht auf dem Schirm, macht sich nicht klar, dass die vorzeitig Eingeschulten als Jugendliche früher in Berührung kommen mit Themen wie "Allein abends ausgehen", "Sexualität", "Alkohol" und "Rauchen", dass sie als die "Kleinen in der Klasse" unter besonderen Druck geraten können, sich bei diesen Themen als cool zu erweisen.

Da denkt doch kein Mensch dran, wenn er aus Moosgummi die Raketen für die Schultüte ausschneidet.

Es ist aber enorm wichtig.

Immer vorsichtig damit sein, Kinder früh einzuschulen. Wenn man einmal in dem System Schule steckt, kommt man schwer wieder raus und dann kann mein "immer fröhlich bleiben" harte Arbeit werden

Uta