Dienstag, 29. Oktober 2013

Glückliche Familie Nr. 178: Von der "Überverantwortlichkeit"


Was für ein Morgen! Prinzessin (12) und Soßenkönig kollidieren im Badezimmer, weil die eine zur Schule, der andere früh zum Flughafen muss. Das Taxi, das ich für den Flughafen-Transfer bestellt habe, kommt und kommt nicht. Der Kater übergibt sich ins Wohnzimmer. Der Kronprinz hat sieben Minuten vor Schulbeginn noch nicht sein Zimmer verlassen. Soßenkönig sucht eine Wintermütze, die noch in den Koffer soll. Ohne Frühstück springt der Kronprinz auf sein kaputtes Fahrrad und saust die Einfahrt hinunter, wo endlich das Taxi hält. Der Fahrer entschuldigt sich. Seine Mutter fliege heute nach Indien zurück und sie fände ihren Reisepass nicht wieder. Ein Kuss. Die Autotüren knallen. Ich winke. Vor dem Haus treiben Blätter und abgebrochene Äste. Nach diesem hektischen Morgen fühle ich mich zerzaust wie der Garten nach dem Sturm gestern.

Wie froh bin ich, dass ich zu Hause arbeiten und mir erst einmal einen Tee kochen kann. Ich genieße jeden Schluck, als könnte ich Ruhe trinken, schiebe die Zeitung beiseite und lese Juul:

"Wenn man in den ersten fünf, zehn oder dreizehn Lebensjahren seine eigene Persönlichkeit zugunsten der Wünsche und Bedürfnisse seiner Eltern unterdrückt hat, dann wird die Überverantwortlichkeit ein Teil der eigenen Identität, weil man keine andere Möglichkeit kennengelernt hat, für andere Menschen wertvoll zu sein." (Jesper Juul: Dein kompetentes Kind, Reinbek bei Hamburg 2009, Seite 194, 195) 

Juul meint mit "Überverantwortlichkeit" den Drang, es allen Recht zu machen, sich schuldig sich fühlen, wenn etwas mal nicht funktioniert, ständig ein "sorry" auf der Zunge rumliegen zu haben, im Dauerstress zu sein, weil überall Möglichkeiten lauern, etwas falsch zu machen.

Dafür können wir unseren Eltern keine Schuld geben. Kriegskinder oder -kindeskinder waren es. Erst Überlebenskampf, dann Wiederaufbau. "Persönlichkeit des Kindes", "gesundes Selbstgefühl", "Integrität wahren"? Keine Begriffe, die damals en vogue waren.

Zum Tee ein paar Lampions aus dem Garten.


Erst in den siebziger Jahren setzte eine breite Psychologisierung* unserer Gesellschaft ein und die Menschen begannen, nicht mehr nur Erlittenes im Kessel von Stalingrad als Trauma zu behandeln, sondern auch Erlebnisse in einer durchschnittlichen Kindheit.

Das mit dem Psychologisieren ist mir meistens zu viel. Nicht hinter jeder Ecke lauert ein Trauma.

Aber ich möchte, dass Kinder nicht mehr diese "Überverantwortlichkeit" entwickeln und mit jedem Jahr, das sie älter werden, glauben, mit ihnen sei irgendetwas falsch.

Ich möchte, dass Eltern an sich arbeiten, wenn es zu Hause nicht läuft, statt die Kinder in die Therapie zu schicken.

Ich lasse ab von meiner eigenen "Überverantwortlichkeit" und packe sie fröhlich mit all dem Laub und den abgebrochenen Ästen in die Tonne

Uta


* nach Ursula Nuber: Der Mythos vom frühen Trauma. Über Macht und Einfluss der Kindheit. Frankfurt am Main 1999, Seite 24