Donnerstag, 26. September 2013

Glückliche Familie Nr. 171: Losglück und Lebenshunger


Mein Mann meinte, ich könne nicht immer Juul zitieren.

Recht hat er.

Obwohl ich Juuls Gelassenheits-Pädagogik schon sehr verfallen bin: seinem Einfühlen ins Kind, seinem rührenden dänischen Akzent bei seinen Vorträgen und seinem Verständnis für familiäres Chaos. Ein Verständnis so breit wie sein Grinsen und so hoch wie die Dünen am Hennestrand.

Ich ging also in den örtlichen Buchladen und bestellte ein Buch von Jan-Uwe Rogge und Angelika Bartram.

"Die meisten bestellen ja Juul", sagte die Buchhändlerin und tippte Suchbegriffe ein. Ich sagte nichts und drehte am Ständer mit den Kunstkarten.

"'Wie Erziehung garantiert misslingt''', meinen Sie den Titel?" Der Kartenständer quietschte. "Ja, genau das Buch will ich haben."

Rogge und Bartram stellen fünf Erziehungsirrtümer an Beispielen dar und zeigen, wie man aus der jeweiligen Falle wieder heraus kommen kann.

Als Irrtümer werden genannt, wenn Eltern ...
  • glauben, sie könnten ihr Kind dazu bringen, im Leben etwas zu erreichen
  • daran fest halten, dass die Kinder ihnen gehorchen müssten
  • glauben, sie kämen ganz ohne Strenge aus
  • überzeugt sind, sie müssten immer für ihr Kind da sein
  • glauben, sie sollten ihre Kinder glücklich machen

Das sind zum Teil einander widersprechende Erziehungs-Tendenzen. Zu jeder Falle, in die man tappen kann, wird die Geschichte einer Familie erzählt. Die Autoren beschreiben, wie eine Strategie, an der sich Eltern festgebissen haben, zu wiederkehrenden Konflikten führt und das Miteinander sehr mühsam macht.

Ich kann noch keine Empfehlung für das ganze Buch aussprechen, weil ich noch nicht damit durch bin. Aber der Anfang ist vielversprechend.

Da ist Pia, die nach der Trennung von ihrem Mann den Schwiegereltern, sich und der Welt beweisen will, dass sie es auch alleine schafft mit den beiden Kindern. Ihr Mantra sind solche Sätze wie "Im Leben wird einem nichts geschenkt" oder "Wer nicht hören will, muss fühlen."

Ganz anders die Situation bei Nele, ihrem Mann Mario und dem gemeinsamen Sohn Jasper. Die Eltern sind beruflich erfolgreich und erziehen den Sohn mit Sätzen wie "Ohne Fleiß, kein Preis" oder "Was Hänschen nicht lernt ...". Der Junge muss direkt nach der Schule Hausaufgaben machen und sitzen bleiben, auch wenn er sich nicht mehr konzentrieren kann. Zur Belohnung schenken ihm die Eltern ein Golf-Training, das er gar nicht will.

Mit dieser Einstellung - so Rogge und Bartram - blieben die Eltern nicht im Jetzt, sondern wollten ihr Kind auf ein "imaginäres Später" vorbereiten. Und weil sie ihr Kind nicht in seiner Ganzheit sähen, sondern nur Talente, die sie so gern bei ihm entdecken würden, entstünde permanent Stress in ihrer Beziehung.

Ich möchte hier nicht im Einzelnen aufführen, welche Kurskorrekturen in dem Buch vorgeschlagen werden, um die Lage zu entspannen. Einen Satz aber, der mir besonders gefallen hat, möchte ich herausgreifen:

"Jeder abstrakten Erfahrung geht eine körperliche voraus."

Nicht nur Nele und Mario aus dem Buch, fast alle Eltern verfallen immer wieder einer viel zu akademischen Vorstellung vom Lernen: Schreibtisch, Bücher, Heft, Schönschreiben, Stillsitzen - das erfreut das Elternherz.

Nicht daran gedacht, dass Schaukeln bis in den Himmel die Gehirnhälften besser verdrahtet?

Schon vergessen, dass Klettern das räumliche Vorstellungsvermögen ausbildet?

Nicht gewusst, dass Balancieren eine wichtige Grundlage für das Matheverständnis ist?

Nicht selber schon gespürt, dass die Seele dürstet nach Singen, Tanzen und sich um sich selber drehen?


Kinder brauchen vor allem in den ersten zehn Jahres ihres Lebens folgende Möglichkeiten:
  • Seil springen
  • mit Bauklötzen bauen
  • Ball spielen
  • mit Sand spielen
  • rutschen, rennen, hüpfen
  • schaukeln
  • Höhlen bauen (draußen mit Zweigen oder drinnen mit Kissen und Decken)
  • balancieren
  • schnitzen
  • Nägel einschlagen
  • in Pfützen springen
  • malen, malen und malen
  • Tiere erleben/versorgen
  • sich um eine Puppe kümmern
  • trommeln
  • singen
  • sich verstecken
  • Geschichten hören

Tiere erleben: Prinzessin vor Jahren auf einem Bauernhof im Allgäu


Noch ein Tipp: Meine Elterntrainer-Kollegin hatte mal bei Baumfäll-Arbeiten in ihrer Nachbarschaft einen Stamm gerettet und auf ihre kleine Terrasse gelegt. Daneben immer griffbereit mehrere Hämmer und Nägel. Das war über Wochen die größte Attraktion für ihren Sohn und seine Freunde. 

Solche Angebote sind viel wichtiger als Früh-Englisch, Vorschul-Chinesisch oder sonstige Attentate, verübt von verkopften Erwachsenen auf lebenshungrige Kinder.

Mir bitte immer fröhlich schreiben, was ich in der Liste noch vergessen habe.

Uta


PS: Das Glückswindlicht aus Papier hat Sabrina von "Alltagssüß" gewonnen. Herzlichen Glückwunsch!
Schreibst Du mir bitte eine Mail mit Deiner Postanschrift? Dann kann ich das Glück eintüten.

Sonntag, 22. September 2013

Glückliche Familie Nr. 170: Erleuchtung zu verschenken


Gestern Abend habe ich mir ein Kirschkern-Kissen in den verspannten Nacken gelegt und gelesen. Den verspannten Nacken habe ich, weil ich ständig die Schultern hochziehe. Das ist die "Ich-will-alles-richtig-machen-Haltung". Und die "Ich-will-alles-noch-besser-machen"-Statur.

Das macht die Schultern und den Nacken bretthart.

Mir helfen dann die heißen Kirschkerne und die "Ich-darf-auch-mal"-Sätze, die ich mir gerne überlege.

Ich darf auch mal ...

... Fehler machen
... garstig sein
... albern sein
... ausgelassen sein
... die Kinder blöd finden

Was ist euer "Ich-darf-auch-mal"-Satz?

Unter allen, die mir ihren Satz in einem Kommentar schreiben, verlose ich dieses Glücks-Windlicht aus Papier. Wer keine Darf-Sätze formulieren will, kann auch einen Gruß schicken und teilnehmen. Ich möchte mich nämlich von Herzen bedanken, dass ihr mir immer so nette, ausführliche und persönliche Geschichten und Kommentare schreibt.

Also hier ist das "Give-away".

In der Papiertüte steht ein kleines Glas mit Teelicht. Ich habe noch ein zweites Exemplar aus Berlin mitgebracht. Das verschenke ich original-verpackt.



Teilnahmebedingungen: 
  • ein Kommentar mit einem kurzen Gruß oder Eurem "Ich-darf-auch-mal"-Satz
  • bis Mittwoch, 25. September, 22 Uhr

Zum Schluss noch mein Lieblingszitat aus der gestrigen Leserunde.

"Erleuchtung ist das Verstehen, dass ihr nirgendwohin gehen müsst, nichts tun müsst und niemand sein müsst, außer genau der Mensch, der ihr jetzt seid." (Neal Donald Walsch: Gespräche mit Gott, Bd.1, München 2006, S. 155)


Beim Erleuchten helfe ich ganz gerne mit Kerzen nach.

Immer fröhlich Fehler machen und so richtig ausgelassen sein

Uta

Donnerstag, 19. September 2013

Glückliche Familie Nr. 169: Familienpolitische Ereiferung


Die Bundestagswahl rückt näher und ich wollte mich schlau machen über die familienpolitischen Vorsätze der einzelnen Parteien. Ja, wollte ich ... wirklich.

Dann bin ich aber hängen geblieben bei einem Interview mit der Soziologin Jutta Allmendinger, die sagt, dass wir Lebenszeitkonten brauchen für Erwerbsarbeit.
Wenn jeder so ein Konto hat, dann darf er in Phasen mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen gar nicht oder wenig Erwerbsarbeit leisten. Und wenn man später Halbwüchsige zu Hause hat und die alten Eltern um die Welt kreuzfahren, dann stürzt man sich mit Freude ins Geldverdienen und füllt sein Arbeitzeitkonto wieder auf.

Die Idee finde ich toll.

Leider steht Frau Allmendinger nicht zur Wahl.

Allerdings stimme ich auch nicht in allen Punkten mit ihr überein. (Die Welt ist häufig komplexer als mir lieb ist.)

Jutta A. findet das Betreuungsgeld doof, Uta A. findet das gut. (Habe ich erwähnt, dass ich es nicht leiden kann, wenn Leute nicht voll auf meiner Linie sind?)

Die Soziologie-Professorin sagt, dass Erziehung der eigenen Kinder damit der Erwerbsarbeit gleichgestellt werde, allerdings auf einem ganz, ganz niedrigen Niveau. Und dass das umgerechnet 3 Euro am Tag seien.

Ja, das ist erschütternd. Dennoch finde ich, dass diese 3 Euro ein wichtiges Zeichen sind, ein Zeichen für junge Mütter und Väter, dass sie - zumindest theoretisch - die Wahl haben, ihre Kleinsten selbst zu betreuen oder in eine Krippe zu geben.

Man sollte wählen können. Ist es neuerdings emanzipiert, wenn man Freiheiten beschneidet?

Dann ist da noch das Argument, die Kleinen würden in einer Krippe besser gebildet als zu Hause.

Abgesehen davon, dass es bei Babys zuerst um Bindung und viel später erst um Bildung geht, kann dieses Argument erst eingesetzt werden, wenn die Qualität der Einrichtungen gewährleistet ist, der Betreuungsschlüssel stimmt und Erzieherinnen besser ausgebildet und bezahlt werden als es heute der Fall ist.

Jesper Juul schreibt:
"Etwa 10% aller Kinder wären in der Tat besser gestellt, wenn sie so viel Zeit außerhalb ihres Elternhauses wie möglich verbrächten - das sagt uns die Statistik."* 
Und die anderen 90%?

Ja, darunter sind auch die Kinder, die aus Migrantenfamilien kommen. Für diese halte ich es für wichtig, dass sie mit drei Jahren in eine gute Kita kommen. Aber in der Zeit davor sollten Eltern, egal wie gut sie Deutsch sprechen oder nicht, wählen können, was sie für sich und ihr Kind für das Beste halten.

Ich beginne mich zu ereifern. Das ist gefährlich.

Will ich bloß Recht behalten über meinen eigenen Lebensentwurf?

Der sah so aus, dass ich als Redakteurin einer Frauenzeitschrift eine Reportage-Reise zum Thema "Mit dem Flugzeug in fünf Tagen um die Welt" antreten sollte. Anfang 30 war ich damals. Kurz vor dem Kofferpacken aber stellte ich fest, dass ich schwanger war und sagte alles ab.

War ich sauer oder enttäuscht?

Nein, riesig gefreut habe ich mich, dass die Zeit endlich anbrach mit Ultraschallbildern im Portemonnaie, mit Laternebasteln (später) und Pflasterkleben auf aufgeschürfte Jungsknie.

Dürfte ich das heute nicht mehr? Mich so freuen, wo meine Karriere doch gerade einen ordentlichen Knick erlitten hatte?

Mein Mann ist dann beruflich an mir vorbeigezogen. Was mich übrigens überhaupt nicht grämte, weil ich das tat, was ich tun wollte.

Dürfte ich das heute nicht mehr? Mich freuen, dass ich zu Hause mein Ding machen konnte?

Weil der Soßenkönig seinen Job wechselte, sind wir mit dem kleinen Kronprinzen nach Frankreich gezogen. Dort habe ich mich ziemlich allein gefühlt, weil ich auf den Spielplätzen nur Nannys traf, die überwiegend aus Marokko kamen und auf den Bänken am Rand zusammengluckten.

In Frankreich, heißt es immer, hätten es die Frauen viel einfacher, berufstätig zu sein, weil sie ihre Babys schon wenige Monate nach der Geburt in eine Krippe geben können.
Es ist richtig, dass man bei unseren Nachbarn seine Kinder komplett weg organisieren kann. Das kommt von der langen Ammentradition Frankreichs. Früher war es üblich, dass betuchte Franzosen in der Stadt ihren Nachwuchs für die ersten Jahre gegen kleines Geld an arme Bauersfrauen abgaben und in den ersten Jahren nur selten besuchten. Darauf ist es wohl zurückzuführen, dass es bis heute in Frankreich als niedere Arbeit gilt, sich um Babys und kleine Kinder zu kümmern.**

In Frankreich leben viele Kinder und Erwachsene voneinander getrennte Leben. Das kann man gut finden oder schlecht.

Mein Ding wäre es nicht.

Wenn man von einer Lebenserwartung von durchschnittlich etwas mehr als 80 Jahren ausgeht, macht die Zeit, die Eltern mit ihren Kindern in der Phase Null bis drei verbringen können, etwa ein Zehntel ihres gesamten Erwachsenenlebens aus (bei zwei Kindern). Ein Zehntel!

Dieses Zehntel und weit darüber hinaus konnte ich auskosten mit meinen Kindern. Dafür bin ich sehr dankbar.

Erinnerung an ein anstrengendes, aber sehr schönes Zehntel meines Lebens

Auch wenn keine Partei hierzulande so viel Geld in frühe, gesunde Bindungen pumpen will, wie ich mir das wünschen würde, bin ich trotzdem dankbar für die familienpolitischen Leistungen, die es in Deutschland schon gibt (in Frankreich gibt es Kindergeld erst ab dem zweiten Kind und weniger Elterngeld als bei uns).

Und auch wenn ich noch nicht ganz sicher bin, wo ich meine Kreuze am Sonntag hinsetzen werde, werde ich auf jeden Fall wählen gehen, weil ich froh bin, in einem Land zu leben, in dem niemand wegen unbequemer Ansichten ins Arbeitslager geschickt wird (nicht in Frankreich, aber ihr wisst schon wo). Man darf wirklich die Maßstäbe nicht verlieren.

Immer fröhlich wählen gehen und die Idee mit den Lebensarbeitszeitkonten weiter entwickeln

Uta

(Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder?Dem Staat, den Eltern oder sich selbst? Ansichten zur Frühbetreuung, Weinheim und Basel 2012, S. 11) 

** aus eigener Erfahrung und mit Hintergründen aus dieser Radiosendung, auf die mich der Newsletter von "familylab" hingewiesen hat

Montag, 16. September 2013

Glückliche Familie Nr. 168: Freiheit, 6. Woche


Die neue Freiheit von Prinzessin (12) geht in die sechste Woche.

Seitdem darf sie jederzeit an den Computer oder an das iPad, wenn die Geräte frei sind.

Nur die Regel, dass sie ins Bett gehen darf, wann sie will, haben wir zurückgenommen. Und wir haben neu mit ihr ausgehandelt, dass um 22 Uhr jedes internetfähige Medium das Zimmer verlassen und sie im Bett liegen muss.

Ich hätte sie gerne noch ein bisschen an die Hand genommen im "world wide wep", sie geschützt vor  Soaps über geistlose Zickenkriege, vor Gewaltszenen oder Videos, triefend vor sexuellen Anspielungen.

Dass Kinder Ruhe brauchen und eine gehörige Portion Langeweile, habe ich im Elterntraining erzählt.

Aber keiner von uns hat mehr Langeweile. Wir Großen schon gar nicht.

"Das nennt man 'Kill-time-application'", sagt mein Mann und meint all die Smart-Phone-Apps, die wir nutzen, sobald sich in unserer besessenen Geschäftigkeit die kleinste Lücke auftut.

Kurzes Anstehen in der Supermarktschlange? Schnell die Mails checken.
Warten auf die S-Bahn? Eine Runde "Tetris" spielen.
Die Freundin hat sich verspätet? Kurz einen Blick auf den Wohn-Blog werfen.

"Oh-m-m-m-m-m." Gegen die permanente Zerstreuung hilft nur Meditation,
habe ich gedacht und mich im Schneidersitz in meinen Ohrensessel gesetzt, die Hände wie zwei undichte Schalen auf den Armlehnen, die Augen geschlossen.

Mein Atem war tief, sehr tief, mein Kopf war leer, sehr leer, als plötzlich ein Fellklumpen mit Krallen in meinem Schoß landete. Aus vollem Lauf war der Kater in meinen Schoß gesprungen. "Wommmm" statt "Ommmmm".

Seitdem habe ich eine seltene Form von Trauma: "Angst vor Tiefflug-Katzen in Meditations-Situationen."

Im Startloch vor dem nächsten Tiefflug?

Also, was die permanente Zerstreuung angeht, sind wir Erwachsenen nicht besser als die Kinder.

Und auch wenn es ein wenig danach klingt, als hätten wir kapituliert, ist meine Bilanz der neuen Medienfreiheit für Prinzessin positiv.

Ich kann sie heute nicht mehr so behütet aufwachsen lassen, wie ich aufgewachsen bin. Das ist nicht zu schaffen, das laugt mich aus.

Dafür werde ich jetzt jeden Tag in den Arm genommen und darf auch sie herzen, wenn mir danach ist.
Die neue Freiheit ist Alltag geworden, schöner Alltag.

Wahrscheinlich ist das gute Verhältnis, das wir seit Start des Freiheit-Projekts haben, der bessere Schutz vor schlechten Einflüssen als ein Klein-Klein an Restriktionen.

Für die nächste Meditation hänge ich mir folgendes Zitat von Jesper Juul als Mantra vor die Nase:

"Was unsere Kinder in der Pubertät brauchen, ab zwölf, 13, 14 Jahren, ist eigentlich nur das: zu wissen, auf dieser Welt gibt es einen oder zwei Menschen, die wirklich glauben, dass ich ok bin. Das brauchen sie. Viele von uns haben keinen solchen Menschen in unserem Leben. Mit einem kann man gut überleben, mit zwei kann man wunderbar leben." Jesper Juul: Pubertät. München 2010, S. 23

Immer fröhlich zum Meditieren den Kater und das Smartphone aussperren

Uta

Dienstag, 10. September 2013

Glückliche Familie Nr. 167: Vom Thron gestoßen


Als Kronprinz vier Jahre alt war und seine Schwester gerade laufen konnte, gingen wir  in einem Park spazieren. Prinzessin hockte etwa 50 Meter hinter uns im Laub, weil sie Steine aufheben musste. Da ergriff der Vierjährige energisch meine Hand und sagte: "Komm, Mama, wir rennen weg."

Ohne mit der Wimper zu zucken, hätte er seine Schwester im Park zurückgelassen. Ein Wolfskind wäre sie geworden, irgendwann aufgegriffen vom Wildhüter mit verfilzten Locken und einer Sprache aus Grunzlauten.

Diese kleine Geschichte fiel mir ein, als ich auf einem Blog las, welche Probleme eine Mutter mit ihrem Sohn hat, seitdem der kleine Bruder geboren ist. Die Frau wunderte sich über die Wut und Aggression des Jungen und schrieb, ihr Mann und sie hätten es doch so geschickt aufgeteilt: Sie kümmere sich hauptsächlich um das Baby und er abends um den älteren Jungen.

Liebe im Schichtwechsel?

Da würde ich mich auch schreiend auf den Boden werfen.

"Ent-Thronung" ist für ein Kind besser zu verkraften, wenn man die Akzente leicht verschiebt.

Man drücke gelegentlich den Säugling seinem Vater, der Oma oder einer liebevollen Nachbarin in den Arm und lasse sich mit dem Erstgeborenen auf das Sofa fallen. Man sage so Dinge wie: "Wir beide haben ganz schön viel Arbeit mit dem Wurm. Geht dir das Geschrei auch auf die Nerven?"

Dann: ausgelassene Kitzelrunde, Kissenschlacht und mit dem großen Kind auf dem Schoß das Lieblingsbuch angucken.

Dann: halbe Stunde Koma-Schlafen für Muttern (hat nichts mit Eifersucht von Kronprinzen zu tun, sondern mit dem nackten Überleben von Muttern).

Dann: wenn hoffentlich die Kinder schlafen und die Wohnung so verranzt ist, dass es auch egal ist, in dem Chaos den Partner und die Erotik suchen. Wenn man nichts findet, zusammen auf dem Sofa abhängen und DVD über die Erotik anderer Menschen gucken.

Bin ich jetzt vom Thema abgewichen?

Ich war doch ganz gut unterwegs als Entsandte der Familienbildungsstätte Hamburg-West. Und dann nur noch Chaos und eine Erotik, die niemand mehr findet unter den ganzen Stilleinlagen.

Sorry, aber ich wurde einfach überflutet von der Erinnerung an diese Zeit, Erinnerung an die Anstrengung, an die perforierten Nächte, an die Frisur mit dem Abdruck vom Stillkissen, an den Brei, der nicht gegessen wird ...


Bild aus unserer Rush-Hour-Zeit

Die Zeit mit kleinen Kindern ist die Rush Hour des Lebens. Die Umstellung auf Familie schaffen, den Anschluss im Job nicht verpassen, die Kita-Entscheidung fällen, die Partnerschaft und die Getreidemühle pflegen ...

Wie soll man es da schaffen, die Bedürfnisse jedes Kindes zu sehen und ihnen gerecht zu werden?

Immer wieder trifft man auf das Zitat von dem "ganzen Dorf", das es braucht, um ein Kind groß zu ziehen.

Die amerikanische Frauenärztin Christiane Northrup schreibt:
"Ich erinnere mich gut an die schönste Zeit, die ich mit meinen Kindern verbrachte, als sie klein waren (drei Monate und zwei Jahre). Ich besuchte damals meine Mutter, und meine Schwester und ihre Kinder waren gleichzeitig dort zu Besuch. Meine Schwester stillte auch gerade; wenn ich also eine Weile fortgehen wollte, stillte sie einfach Kate für mich, so wie Frauen es seit Jahrhunderten getan haben. ... Unsere Kinder spielten vergnügt zusammen, und ich konnte die Gesellschaft Erwachsener genießen und mich gleichzeitig an meinen Kindern freuen. Das war das einzige Mal, dass ich eine Vorstellung davon bekam, wie es gewesen sein muss, Mitglied einer liebevollen Sippe zu sein." (Christiane Northrup: Frauenkörper. Frauenweisheit. Wie Frauen ihre ursprüngliche Fähigkeit zur Selbstheilung wiederentdecken können. München 1999, 2. Auflage, S. 472)
Unter solchen Bedingungen hätten wir die Möglichkeit auf Kinder einzugehen, wie sie es bräuchten.

Also immer fröhlich die entmachteten Thronfolger durchkitzeln und gucken, wo man Sippschaften nutzen oder gründen kann

Uta

Donnerstag, 5. September 2013

Glückliche Familie Nr. 166: Held des Tages


Kronprinz (fast 16) kam neulich mit einem Stempelaufdruck aus der Schule. "Held des Tages" stand auf seinem Handrücken. Seine Chemie-Lehrerin hatte ihn und ein paar Mitschüler ausgezeichnet, weil sie über ein Experiment im Unterricht eine ausgefallene Geschichte geschrieben hatten.

Kronprinz zeigte mir den Stempel mit verhohlenem Stolz. Und mich berührte, wie unter der Coolness die Freude durchschimmerte.

Auch einer seiner Kumpel, ebenfalls ein "Tagesheld", hatte zu Hause stolz von dem Titel berichtet. Das erfuhr ich von seinem Vater bei einem Gespräch auf dem Klassenfest.

15 sind sie, fast 16, überragen ihre Mütter und bald auch die Väter.

Tagsüber trinken sie Kaba und abends gelegentlich ein Pils.

Aufbrausend, aggressiv, abweisend können sie sein und dann so verletzlich, dass man sie auf den Schoß ziehen möchte.

Sie strotzen vor Kraft ... und vor Empfindsamkeit.

Kein Wunder, dass sie den Video-Spielen verfallen, wo sie nicht nur Abenteuer erleben, sondern auch den Rausch der Anerkennung.

"Nach jeder Rennstrecke, jedem vollendeten Level, jedem gelösten Rätsel bekommt der Spieler Applaus, Lob und digitale Leckerlis, egal, wie gut oder auch schlecht er die Herausforderungen gemeistert hat. 
Zugleich ... wird er zu Höherem angetrieben. Dabei heißt es übrigens nie: 'Das war nicht gut, du musst mehr üben!', sondern 'Das war super! Leg'noch eins drauf, da geht noch was!'" 

Das schreiben Tanja und Johnny Haeusler in "Netzgemüse" (S. 180), wo sie auch der Frage nachgehen, welche psychologischen Erkenntnisse Game-Entwickler nutzen, um Spieler in ihren Bann zu ziehen.

"Den Spieler anerkennen und wertschätzen" steht da ganz weit oben.

Warum peilen Eltern und Lehrer für Kinder nicht das nächste Level an?

Warum glauben wir nicht an sie, statt auf ihren Fehlern und Schwächen herumzureiten?

Wie nachhaltig ein wenig Wertschätzung sein kann, entdeckte ich, als ich Kronprinz neulich ein Päckchen Karteikarten in sein Zimmer legte. Vor Monaten hatte ich eine Besorgung für ihn mit dem Aufkleber versehen, den ihr auf dem Foto seht. Er muss ihn sorgfältig abgelöst und auf seine Schreibttisch-Unterlage geklebt haben. Das hat mich sehr gerührt.




Auch wenn das pubertierende Kind vielleicht gerade alle Stacheln ausgefahren hat, es immer fröhlich anerkennen und wertschätzen.

Uta

Sonntag, 1. September 2013

Glückliche Familie Nr. 165: Kleines Fragezeichen in Perpignan


In unserem Sommerurlaub haben wir auch die südfranzösische Stadt Perpignan besucht.

Stellt euch ein Straßen-Café vor: 30 Grad im Schatten, die Oberschenkel kleben an den Bistrostühlen. Kaum ein Wind in den schmalen Gassen.

Eine deutsche Familie setzt sich an den Nebentisch: Eltern, Großeltern, zwei Mädchen im Alter der großen Zahnlücken. 

"Ich will ein Eiiiiis", ruft das kleinere Mädchen, als die Erwachsenen noch die Stühle rücken. 

"Erdbeer, Zitrone und Schokolade." - 

"Hier gibt es kein Eis, nur Crepes mit Zucker." -

"Menno, ich will aber ein Eis." -

"Du hast doch gehört, es gibt hier keins." Mutter und Oma fächeln sich mit der Speisekarte Luft zu. 

"Setzt dich mal gerade hin. Kaum sind wir ein paar Meter gelaufen, hängst du hier am Tisch wie ein Schluck Wasser in der Kurve." -

"Wir können doch einen Eisladen suchen." -

"'Gerade sitzen', hab' ich gesagt," Mutter drückt dem Mädchen die Hand in den Rücken. 

"Ich habe dir schon mal gesagt, du sollst dich benehmen." Mutter zerrt den Stuhl mit dem kleinen Mädchen näher zum Tisch. "Du kannst dich benehmen, das weiß ich. Aber du willst es nicht."

"Können wir jetzt gehen? Hier gibt's ja doch kein Eis." -

"Du sollst dich benehmen, habe ich gesagt, einfach mal zehn Minuten artig sein. Ist das zu viel verlangt?"

Es folgen weitere Ausführungen über das Benehmen des Mädchens im Urlaub und allgemein.

Wortes-Last und Hitze haben es ganz in sich zusammen sinken lassen. Es hängt am Tisch wie ein kleines, schwitzendes Fragezeichen.

*

"Sich benehmen, artig sein, tun, was sich gehört" - das sind moralische Kategorien, mit denen ein Kind nichts anfangen kann. Es spürt nur diffus, dass irgend etwas mit ihm nicht in Ordnung ist.

Jesper Juul sagt, wir sollen Kindern nicht dadurch Grenzen setzen, dass wir ihnen abstrakte Normen und Verhaltensregeln referieren. 
"Kinder wollen stets mit ihren Eltern zusammen arbeiten, und das fällt ihnen umso leichter, je persönlicher wir sie ansprechen und je gleichwürdiger wir sie behandeln, statt sie zurecht zu weisen und von oben herab zu behandeln." (Jesper Juul: Dein kompetentes Kind, Reinbek bei Hamburg, 2010, 3. Auflage, S. 228)

Da scheint es Eis zu geben.

*

Ich hätte der gestressten Mutter gerne einen kleinen Juul zum Soufflieren ins Ohr gesetzt. Etwa so hätte sie dann gesprochen:

"Dir ist es wichtiger, ein Eis zu essen als etwas zu trinken? Es tut mir leid, aber hier gibt es kein Eis." (Wunsch nicht abgebügelt, Bedürfnis anerkannt.)

"Trotzdem werden wir hier bleiben. Oma und Opa haben eben gesagt, dass sie dringend ein Weilchen sitzen müssen, und ich brauche eine Tasse Kaffee." (Wünsche der Erwachsenen klar geäußert.)

"Deshalb will ich, dass wir hier etwas trinken, uns kurz ausruhen und du eine halbe Stunde sitzen bleibst. Ich kann die Bedienung fragen, ob sie Dir Papier und Stifte bringen kann."

"Danach können wir gucken, ob es irgendwo ein Eis gibt." 

*

Wenn Kinder über längere Zeit verlässlich erleben, dass man ihre Bedürfnisse zwar nicht immer erfüllt, aber ernst nimmt, maulen sie in der Regel weniger, als wenn man erst alles abbügelt und sich dann doch "weich-meckern" lässt. 

Und wenn sie meckern, weil wir natürlich nicht immer alle Wünsche berücksichtigen können und wollen, sage ich schon mal: "Wer etwas fragt, muss auch mit einem 'Nein' leben können."

Mein Wort zum Sonntag heute: Moralpredigten vermeiden, immer persönlich mit den Kindern sprechen, ihnen zuhören und eigene Bedürfnisse als Erwachsene klar und fröhlich äußern (Puh, das 'fröhlich' auch noch verwurstet)


Uta


Ps: Das Verhalten der Mutter am Nebentisch in Perpignan war weder falsch noch schlimm. Auch wird das Mädchen deshalb kein Kindheitstrauma davon tragen. Mir fällt nur auf, dass viele Familie es sich unnötig schwer machen und permanent schlechte Stimmung haben. (Nur so zur Einordnung dieses Posts.)