Dienstag, 6. August 2013

Glückliche Familie Nr. 158: Gestörte Logopädin in Elternzeit


Ich stand in unserer Bankfiliale hinter einem jungen Mann, der in unserem Stadtteil bekannt ist, weil er einer der wenigen Tagesväter in Hamburg ist. Von Zeit zu Zeit sehe ich ihn mit einem Bollerwagen mit vier oder fünf Kindern darin durch den Park ziehen.

Heute wollte er am Bankschalter Geld abheben und hatte zwei Jungen im Alter von knapp drei Jahren bei sich. Die Jungen stürzten sich sofort auf die Spielecke mit der Holzeisenbahn.

"Oh, da werden Sie Schwierigkeiten haben, die wieder loszueisen", sagte der Mann hinter dem Schalter, als er dem Tagesvater das Geld auszahlte. "Das gibt garantiert Geschrei. Deshalb habe ich jetzt immer Gummibärchen hier." Er tauchte unter den Tresen.

Der Tagesvater aber steckte das Geld ein, rief "Los Jungs!" und verschwand. Die Jungen ließen den Holzzug auf offener Strecke stehen und rannten ihm nach.

Stille in der Bank.

Als der Mann am Schalter seine Sprache wieder fand, meinte er nur: "Na, so kann es auch gehen."

*

Neulich morgens im Supermarkt beobachtete ich eine Mutter mit einem kleinen Mädchen, das etwa eineinhalb Jahre alt war. Die Frau füllte den Einkaufswagen und schob ihn langsam in den nächsten Gang. Das kleine Mädchen fuhr mit seiner Hand über die Spätzle-Tüten im Regal. Ich sah, wie sie das Knistern genoss, ihr dann die Mutter wieder einfiel und ihr schnell hinterherlief. 

Ich war fasziniert von diesem unaufgeregten Einkauf mit Kleinkind und folgte dezent.

Das Mädchen ließ sich kurz tragen, um Nähe zu tanken und entwand sich wieder dem Arm seiner Mutter. Die Frau verglich Gemüsekonserven, ihre Tochter Senf-Sorten. Als das Mädchen ein Glas mit Schattenmorellen aus dem Regal nahm, dachte ich: "Jetzt wird Mama einschreiten." Ich hielt den Atem an, war kurz davor selber hinzuspringen, als das Mädchen das Glas unfallfrei zurückstellte und Mutter und Kind friedlich zur Kasse zogen.

*

Ich würde so gerne ausprobieren, ob ich mit meinem Wissen von heute mit kleinen Kindern auch so entspannt sein könnte. 

Was habe ich mich früher gestresst! 

Zwar habe ich Kronprinz (heute 15) auch im Supermarkt laufen lassen, aber als hochnervöse Mutter des Typs "Ich-mache-mein-Kind-zum-Lebensprojekt" war ich ihm immer auf den Fersen. Mit meinem Atem im Nacken musste er gar nicht selbst darauf achten, dass er Anschluss hielt. 

Wenn er nach den Nudeln im Regal griff, war Uta sofort auf Augenhöhe und sagte: "Ja, das sind Torrr - te - lini. Die können wir auch mal kochen" ...  sanft natürlich und voller Verständnis.

Ich erschloss mit dem Kind die Lebenswelt "Einkauf" und nannte die Produkte überdeutlich beim Namen, weil ich in einem Erziehungsratgeber gelesen hatte, man solle das Kind "in Sprache baden", damit es einen großen Wortschatz entwickele. 

So rannte ich hinter meinem Erstgeborenen durch den Supermarkt, eine Frau, die verhindern musste, dass der Kleine "nine-eleven" mit Konserventürmen spielte und die dabei überdeutlich Worte formte.
Wahrscheinlich hielten die Leute mich für eine gestörte Logopädin in Elternzeit. 

Da der kleine Prinz nicht Verantwortung dafür übernehmen musste, mich nicht zu verlieren (eine Fähigkeit, die jedem Kind angeboren ist, weil es früher mal überlebenswichtig war), hatte er jede Menge Zeit, Blödsinn zu machen und zu testen, wann ich mit dem pädagogischen Getue aufhören und die Fassung verlieren würde. Und ich hatte gar keine Zeit mehr, richtig einzukaufen, nahm den falschen Blätterteig, vergaß die Sahne.


Kronprinz auf der Flucht vor über-ambitionierter Mutter


Warum es bei mir nicht funktionierte mit dem lässigen Einkauf, habe ich erst verstanden, als mir meine Freundin Jean Liedloffs Buch "Gegen die Zerstörung unserer Glücksfähigkeit in der frühen Kindheit" schenkte.

Auf ihren Expeditionen zu den Yequana-Indianern im Dschungel Venezuelas hat Liedloff insgesamt zweieinhalb Jahre bei diesem Stamm gelebt, um heraus zu finden, warum sie so offenkundig glücklich waren. Dabei richtete Liedloff ihr Augenmerk besonders auf den Umgang mit Kindern. Sie schreibt:

"Ein Kleinkind der Yequana würde es sich nicht im Traum einfallen lassen, sich auf einem Waldweg von seiner Mutter zu entfernen, denn die Mutter blickt nicht um sich, um festzustellen, ob es wohl folgt, sie gibt ihm nicht zu verstehen, dass es eine mögliche Wahl gebe oder dass es ihre Aufgabe sei, sie zusammenzuhalten; sie verlangsamt lediglich ihren Schritt so weit, dass es mithalten kann." (ebd., S. 115)

Die Yequana, so die Forscherin, würden die Fähigkeit zur sozialer Kooperation schon bei den Kleinsten als gegeben voraussetzen. Kinder so zu betüddeln, wie es in westlichen Zivilisationen üblich sei, käme ihnen wie eine Beleidigung der angeborenen Stärke von Kinder vor. Gleichwohl bieten die Yequana ihren Kindern immer Nähe und Schutz, allerdings nur, wenn die Kinder danach verlangen.


Liedloff auf unseren Alltags-Dschungel übertragen bedeutet:
  • mit kleinen Kindern seine Arbeit machen* 
  • (gemeint sind Alltagsverrichtungen, weniger die Doktorarbeit, die noch zu schreiben ist)
  • sie dabei sein lassen
  • sie möglichst auch etwas "arbeiten" lassen
  • ihnen beiläufig Nähe geben, wenn sie es brauchen 
  • und sie in Ruhe lassen, wenn sie kein Nähebedürfniss signalisieren
  • als Eltern oder Betreuer im Park, Wald, Supermarkt seinen eigenen Weg gehen
  • das Kind im Augenwinkel halten, aber ihm nicht ständig auf den Fersen sein

Klar, dass wir nicht an der vierspurigen Hauptstraße die Yequana-Überlebens-Nummer machen, aber sonst jeden fröhlich seiner Wege gehen lassen

Uta

* Da fällt mir sofort meine Oma ein, die mit Enkelkind auf der Hüfte Kaffee einschenkte.