Dienstag, 6. November 2012

Glückliche Familie Nr. 97: Altruismus in Netzstrumpfhosen


Die Grünen in Hamburg fordern, den künftigen Rechtsanspruch für Einjährige auf einen Kita-Platz (gilt von August 2013 an) von fünf auf acht Stunden auszuweiten. (Hamburger Abendblatt vom 5.11.2012)

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Beim Spazierengehen am Wochenende trafen mein Mann und ich Freunde mit ihrer eineinhalbjährigen Tochter. "Ich bin ja weiterhin zu Hause", raunte Carolin mir zu, "aber damit bin ich in meinen Mütterkreisen so ziemlich die einzige." - "Wenn es schön ist für euch", raunte ich zurück, "genieße es doch." Wir beide guckten über die Schulter, ob irgend jemand unser konspiratives Gespräch gehört hatte.

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Bindungsforscher Karl Heinz Brisch schreibt, dass für die Betreuung von Säuglingen in einer Krippe ein Verhältnis von 1:2 zu empfehlen ist. "Das heißt eine Erzieherin betreut maximal zwei Säuglinge. Besteht die Gruppe sowohl aus Säuglingen als auch aus größeren Kindern, kann das Betreuungsverhältnis 1 : 3 sein. ... Die heutigen Betreuungsverhältnisse von 1 : 6 oder gar 1 : 8 und mehr sind nicht akzeptabel." (Karl Heinz Brisch: SAFE. Sichere Ausbildung für Eltern, Stuttgart 2010, S. 137)

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Am vergangenen Freitag war ich zu Hause und machte im Wechsel Hausarbeit und schrieb, als eine Freundin klingelte, um für die gemeinsame Übernachtung unserer Töchter die Schlafsachen zu bringen. "Trägst du daheim immer solche Schuhe?", fragte sie. Ich stöckelte in Pumps und engem Rock durch meinen Haushalt. "Nicht immer", erwiderte ich, "aber warum sollte ich wie ein verhuschtes Mütterchen aussehen, nur weil ich zu Hause arbeite?" 
Vor zwölf Jahren lernte ich eine Mutter von drei kleinen Töchtern kennen. Sie fiel mir auf, weil sie von Zeit zu Zeit in Kleid und hohen Schuhen mit ihren Kindern auf den Spielplatz kam, sich auf die Bank setzte, in vollendeter Eleganz ein Feinstrumpfbein über das andere schlug und die Keks-Box aufklappte, als sei es eine Puderdose. Unpraktisch? Egal. Wahrscheinlich lag der Haushalt brach, aber sie wahrte ihre Würde als Frau. Ihre Töchter dürften fast erwachsen sein, aber den Auftritt ihrer Mutter auf dem Spielplatz habe ich nie vergessen. (Die Töchter sicher auch nicht.)


Jeans: Esprit-Denim, abgeschnitten, Strumpfhose H&M, Schuhe: aus einem italienischen Schuhladen in Berlin,  Klammerbeutel: Schwiegermutter


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In der aktuellen Ausgabe der ZEIT gibt es ein Pro und Contra zu der Frage "Darf man Hausfrau sein?". In ihrem "Pro"-Text schreibt Sabine Rückert:

"Hausfrau kann heute ein ganz und gar politisch nicht korrekter Lebensentwurf sein, ein Widerstand gegen alle Aufdringlichkeiten des Zeitgeists. Die bewusste Hausfrau ist eine Rebellin gegen die Zwänge des Marktes. Sie macht nicht mit beim großen Rattenrennen. ... Sie sitzt am Sandkasten und schaut den Kleinkindern beim Schaufeln zu. Sie hat, was Kinder zum Großwerden brauchen: Zeit. Zeit zum Spazierengehen, zum Plätzchenbacken, zum Basteln, zum Vorlesen. Sie ist eine Entschleunigungsfigur von einer fast philosphischen Dimension. ...Die Hausfrau ist eine merkwürdig altruistische Erscheinung in einer Welt von Egomanen, sie arbeitet nicht an ihrer Selbstoptimierung, sondern am Wohlergehen anderer, Schwächerer. An der Stabilität von Bindungen in einer Zeit der Unverbindlichkeit."


Liebe Sabine Rückert,  herzlichen Dank für diese Worte und herzlichen Glückwunsch zum Aufstieg in die Chefredaktion der ZEIT. Ich freue mich über ihren Aufstieg und darüber, dass Sie Frauen, die einen anderen Lebensentwurf leben als Sie selbst, den Rücken stärken. Das ist so selten. Danke!


Immer schön fröhlich bleiben

Uta


PS: Eine "altruistische Erscheinung" ist auch meine Mum. Sie hat vier Kinder groß gezogen. Und als das letzte aus dem Haus war, hat sie jahrelang ehrenamtlich beim Kinderschutzbund türkischen Kindern bei den Hausaufgaben geholfen. Danke, Mum!