Montag, 22. Oktober 2012

Glückliche Familie Nr. 93: Einfühlsames Spiegeln


Die Frau blättert in den Blusen am Ständer, das größere Mädchen dreht sich vor dem Spiegel, das kleine Mädchen schwankt langsam auf die Rolltreppe zu, die immer neue Stufen steil nach unten wälzt. Da bewegt sich was, lässt große Menschen kleiner wachsen und verschwinden.

Das kleine Mädchen wird schneller, hat bald den Spalt erreicht, aus dem die Stufen fließen. "Neiiiiiiiiiin!" Das ist Mama, die schreit, und Mamas Arm, der das kleine Mädchen vom oberen Absatz der Rolltreppe reißt.

Schwer atmend hält die Frau das Kind auf dem Arm. Der Buggy mit den aufgespießten Tüten ist umgekippt. Das kleine Mädchen brüllt, aber die Frau drückt es mit beiden Armen an sich.

"Das ist ja gerade noch mal gut gegangen - es ist gut, es ist alles wieder gut."

Das Mädchen weint, die Leute gucken.

"Du wärest mir fast da runter gestürzt. Man war das knapp!"

Der kleine Körper auf dem Arm zieht neue Luft für weiteres Schluchzen.

"Das war ein großer Schreck für dich, oder?"

Das Mädchen weint und weint.

"Mama kann ganz schön laut brüllen, oder?"

Kind weint ein bisschen weniger.

Mutter: "Es ist alles gut." (lässt Kind wieder vom Arm und geht in die Hocke, um es weiter zu trösten)

Kind bekommt Nase geputzt und weint noch ein bisschen vor sich hin.

Mutter streicht ihm über den Rücken. "Jetzt hast du dich wieder beruhigt von dem Schreck, oder?"

Das Kind schluckt letzte Tränen runter, die Frau richtet den Buggy wieder auf. Sie ruft das große Mädchen, setzt sich das kleine Mädchen auf die Hüfte und geht mit den Kindern zur Kasse.



Utas Kurzanalyse einer Erziehungssituation:

Die Frau hat sich super verhalten,
  • weil sie nicht schimpft (völlig normale Entdeckerlust eines Kleinkindes, kein Grund zum Schimpfen)
  • weil sie mit viel Körperkontakt tröstet
  • weil sie die Gefühle des Kindes erkennt und in ihre Worte fasst ("Das war ein großer Schreck für dich, oder?") 

Diese Reaktion ist ideal für den Aufbau einer sicheren Bindung. Das habe ich aus dem Buch des Bindungsforschers Karl Heinz Brisch. Nicht nur, dass die Frau über Körperkontakt tröstet, was die meisten Eltern instinktiv tun würden, sondern dass sie das innere Erleben des Kindes "spiegelt". Sie macht sich Gedanken, was in dem Kind gerade vorgeht, und fasst es für das Kind in Worte. Worte, die dem Kind selber noch nicht zur Verfügung stehen. Das schafft eine intensive Bindung. Das kleine Mädchen fühlt sich verstanden und beruhigt sich schnell wieder. Und wenn die Mutter häufiger so reagiert, lernt es auch, bald Worte zu finden für sein eigenes Gefühlsleben. Das macht Kinder selbstsicher.


"He, du hast Spaß beim Welterkunden, oder? Eine erste kleine Erschöpfung sehe ich in deinem Gesicht, aber ein bisschen geht noch, oder?"

Schade, dass das bei Jugendlichen nicht mehr hilft mit dem "Spiegeln".

Mutter zu ihrem heranwachsenden Sohn: "Du hast so trübe Augen. Es macht dir zu schaffen, so lange vor dem Computer zu sitzen, oder?"

Sohn: (grummel, grummel)

Mutter: "Du fühlst dich leer und seelisch ausgebrannt von den vielen Reizen, oder?"

Sohn: (grummel, grummel)

Mutter: "Es wird alles wieder gut, mein Großer, wir bringen das Ding auf den Elektro-Schrott."

Sohn: (wird handgreiflich)


Bei den Kleinen immer schön fröhlich "spiegeln"

Uta