Donnerstag, 30. August 2012

Glückliche Familie Nr. 75: Die Überbehüter


Oft sitzt mir die Angst im Nacken, dass ich meine Kinder zu sehr behüte.

Verwöhne ich die beiden? Nehme ich ihnen zu viel ab? Verhindere ich damit, dass sie selbständig werden?

Einige Freundinnen würden jetzt sagen, dass sie diese Fragen nicht treffender für mich hätten formulieren können.

Als Prinzessin im Kindergarten war, brachte ich sie bis vor den Gruppenraum. Sie saß auf der Bank zwischen den Zwergen-Mänteln, mit den kleinen Flausch-Kapuzen und den plüschigen Schals mit den Tierköpfen. Und aus den Ärmeln baumelten winzige Fäustlinge an selbst gedrehten Kordeln. Vom Regen draußen hatte sich wieder eine Locke an Prinzessins Schläfe gebildet und mir war, als wäre zu den dutzend Sommerprossen eine weitere am Nasenflügel hinzugekommen (weiter jetzt, Uta!) ... und sie streckte mir ihre Füße mit den Gummistiefeln entgegen. Ich zog an den Stiefeln und stellte sie in ihr Fach.

"Das kann sie ja wohl alleine", sagte eine andere Mutter. In ihrem verächtlichen Blick sah ich, dass sie mich für die Ober-Glucke des Kindergartens hielt.

65 Prozent der Eltern in Deutschland, so Jugendforscher Klaus Hurrelmann, praktizieren einen  "überbehütenden" Erziehungsstil. Und in der Hocke zwischen den Gummistiefeln war ich auf frischer Tat ertappt worden.

Ja, ich bin überbehütend. Mein Mann auch. Wir sind bekennende Überbehüter.

(So muss man es anfangen, man muss es eingestehen, so ist es auch bei den Anonymen Alkoholikern: Erst das Bekenntnis, dann kommen die weiteren Schritte zur Heilung.)

Heute morgen suchte Prinzessin (inzwischen 11) ihren Mathezettel. Mein Mann sprang vom Frühstückstisch auf und half ihr beim Suchen. "Ist sie nicht alt genug ist, sich selber zu organisieren?", rüffelte ich ihn.
"Ja, aber ich will nicht, dass sie Aufgaben, die sie gemacht hat,  wieder zu Hause liegen lässt und einen Strich dafür bekommt." - "Ja," sinnierte ich, "das will ich auch nicht", und während die anderen oben im Zimmer jedes Blatt umdrehten, durchsuchte ich den Stapel Schulsachen auf der Klavierbank.

Wie kriege ich das mit dem Überbehüten in den Griff? Soll ich einen Entzug machen? Soll ich die Haustür von innen abschließen und den Schlüssel hinters Klavier werfen, wenn ich kurz davor bin, zur Schule zu fahren und Prinzessin (11) das vergessene Schwimmzeug zu bringen?

Ich habe keine wissenschaftlich wasserdichte Methode, ich handele intuitiv.

Wenn Prinzessin gerade Stress mit ihren Freundinnen hat und es mir gerade passt, fahre ich zur Schule und winke mit dem Bikini auf dem Schulhof ("Wie peinlich, Mama". - "Das heißt: 'Danke, meine sehr verehrte Frau Mama, du hast meine Sportnote gerettet'.")

Wenn Prinzessin aber gerade einen lauen Lenz genießt und ich dringend etwas schreiben möchte, biete ich nicht das "Mama-All-Inclusive"-Paket, sondern schließe mich mit einer Schüssel Schokomüsli im Arbeitszimmer ein und lasse die Familie Familie sein.

Ich habe überlegt, ob das, was ich mache, trotzdem Methode hat, und bin auf folgende Punkte gekommen.
  • Kleine Kinder wollen von sich aus ganz viel selber machen: sich anziehen, im Topf rühren, die Pfeffermühle auffüllen, Luft aus dem Reifen lassen, das Geld in den Parkautomaten werfen, die Pfützentiefe messen ... Wenn möglich, machen lassen! Und immer wieder Zeit schenken, für die "Ich-kann-es-schon-alleine-"Momente. 
  • Nie sagen: "Das kannst du nicht." 
  • Beim Ausziehen im Kindergarten auf Signale achten. Brauchen wir beide einen Moment der Nähe und mein Kind genießt es, noch einmal klein zu sein und Hilfe zu bekommen beim Ausziehen? Oder will es groß sein und alles alleine tun? Starr und riesenhaft neben dem kleinen Kind zu stehen und mit scharfer Stimme zu sagen "Das musst du jetzt alleine können", weil das in einem Elternratgeber stand, ist fehl am Platze.
  • Immer auf das Bedürfnis nach Nähe achten. Im Elterntraining erkannte eine Mutter, dass ihr Sohn so quälend lange an den Hausaufgaben saß, weil er es damit schaffte, dass sie sich zu ihm setzte. 
  • Bei den Kindern von Überbehütern, die auch noch zu Hause präsent sind, ist das genau umgekehrt. Wenn die Kinder schon älter sind (über 12), sollten sie gelegentlich ein oder zwei Tage ganz allein gelassen werden, damit sie merken, das sie nicht in einem Fünf-Sterne-Hotel leben. Und wenn wir Eltern dann wieder kommen, dann dürfen wir sie wieder betüddeln ... Juchhuuu! 
  • Mir ist es wichtig, ein Klima gegenseitiger Unterstützung in der Familie zu schaffen. Ich lebe vor, dass ich gerne helfe, und merke, dass dieses Vorbild bei den Kindern wirkt (bei Jungs etwas zäher, aber der Samen ist gelegt.) 
  • Nur wenn es zu einseitig wird (siehe Fünf-Sterne-Hotel), ziehe ich ab und an mal die Notbremse und schicke meine "Gäste" zum Tellerwaschen in die Küche. Aber bitte kein tägliches Aufrechnen, wer wann was für wen getan hat. 

Immer schön fröhlich bleiben

Uta 

Montag, 27. August 2012

Glückliche Familie Nr. 74: Gespräch mit Flüssigkeit


Von einer Freundin hörte ich folgenden Spruch: In der Pubertät verpuppt sich das Kind wie eine Raupe  und wird danach ein Schmetterling. Und in diesem Kokon, was ist da drin? - Nur Flüssigkeit.

Ein vernünftiges Gespräch führen mit Sohn oder Tochter in der Pubertät? Fehlanzeige.
Ein aktiver Verstand? Nein, nur Flüssigkeit.

Man sieht auch Karikaturen: ein jugendlicher Kopf und ein großes Schild dran: "Wegen Umbau geschlossen."

Wenn wir schon bei Sprüchen sind. Mir gefällt der von meiner Freundin Isa viel besser:



"Pubertät ist, wenn sich das Kind weiterentwickelt 

und die Eltern nicht."


Das Kind entfernt sich von den Eltern, um erwachsen zu werden. Die alte Geborgenheit wird aufgegeben, um neue bei Gleichaltrigen zu finden. Das ist für alle Beteiligten eine Herausforderung.

Es war am vergangenen Samstag um 22 Uhr 15, als Kronprinz (14) fragte, ob er noch zu einem Freund radeln dürfe. Es sei so gegen Mitternacht zurück.

22 Uhr 15 in unserer Straße


Mein Mann und ich saßen auf dem Sofa und hatten gedanklich die Zugbrücke zu unserer familiären Festung hochgezogen.

"Jetzt noch? Weißt du, wie spät es ist?"

 Ja, das sei doch kein Problem und er sei immerhin fast 15.

"Ja, schon, aber das muss doch nicht sein. Ihr könnt nächstes Wochenende zusammen übernachten."

"Ha, in deinem Blog lässt du dich immer über 'overprotecting' Mamas aus, aber selber ...". 

Kronprinz stand breitbeinig in der Wohnzimmertür. Seine braunen Augen blitzten mich kampflustig an.

Von wegen nur Flüssigkeit in der Birne.

"Viele Eltern da draußen sind 'overprotecting'", sagte ich, "ich bin nur 'protecting' und das ist der Job von Eltern. Wir wollen, dass du überlebst." 

"Aber ich fahre mit dem Fahrrad. Was soll denn da passieren?"

"Wahrscheinlich nichts. Aber du könntest einen Platten haben und musst das Fahrrad dann alleine durch die Nacht schieben, da habe ich Angst um dich und kann nicht schlafen."

"Ja, es könnte einem auch ein Meteroit auf den Kopf fallen."

Dass solche Gespräche bei uns bisher glimpflich verlaufen, verdanke ich Jesper Juuls Werk "Pubertät. Wenn Erziehen nicht mehr geht". Von Zeit zu Zeit brauche ich ein paar Seiten daraus. Das ist, als würde ich am Tropf liegen und eine Nährlösung aus Geduld, Verständnis, Liebe und Fairness würde in meine Adern tropfen. 

Auf den Seiten 28 und 29 findet sich ein beispielhafter Dialog zwischen Eltern und ihrem schulmüden Sohn. Ich weiß noch, dass ich ihn zum ersten Mal im Freibad auf einer Liege las und mich inmitten des Geschreis von der Wasserrutsche ein tiefer Frieden erfüllte. 
Welche Wellen die Pubertät bei uns auch schlagen mochte, ich würde zuhören und diese guten Fragen stellen. 

Mir fällt häufig auf, dass Eltern zum einen nicht richtig zuhören und zum anderen unnötig konfrontativ mit ihren Kindern sprechen. Dabei sind Pubertierende nicht dumm wie Raupen, aber so dünnhäutig wie ein Schmetterling. Eine große Hilfe ist es, als Mutter oder Vater Ich-Botschaften zu verwenden.


Nicht:

"Tom, du räumst jetzt die Spülmaschine aus. Du hast die ganze Woche noch nichts getan." (Jeder, der sich in der Pubertät befindet, hört nicht die Aufgabe, sondern nur die Abwertung).

Besser:

"Ich habe diese Woche viele Termine und brauche dringend Hilfe im Haushalt. Wer könnte welche Aufgaben übernehmen?" (oder bei nur einem Kind) "Welche Aufgabe könntest du übernehmen?" (besprechen, Gesprächsergebnis aufschreiben und zur Erinnerung an die Zimmertür hängen)



Bei meinem nächtlichen Gespräch mit Kronprinz stellte sich heraus, dass es ihm nicht wichtig war, den Freund zu treffen, sondern sich draußen auszutoben (in der Pubertät verschiebt sich der Schlaf-Wach-Rhythmus um eineinhalb Stunden nach hinten, aus: Largo/Czernin: Jugendjahre).

Schließlich schlug er vor, mit dem Kick-Roller auf unserer Straße Slalom auf der gestrichelten Mittellinie zu fahren. Nach einer Viertelstunde kam er davon zurück und ich konnte selig schlafen.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta

Freitag, 24. August 2012

Glückliche Familie Nr. 73: Der Los-Angeles-Blues


Prinzessin (11) ist ein sehr unerschrockenes Mädchen. Die steilste Achterbahn auf dem Jahrmarkt, Fünf-Meter-Brett im Schwimmbad, höchstes Level im Hochseilgarten - das ist für sie "baby-eier-leicht". Auch in anderen Familien zu übernachten oder auf Klassenreise zu fahren, war für sie nie ein Problem.

Heimweh? Das kannte sie nur von anderen Kindern.

Aber als wir in diesem Jahr durch die USA reisten, hatte sie plötzlich Heimweh. Nach Zuhause, nach ihrem Kater, den Nachbarn, den Freundinnen... Kurz vor unserer Abreise in L.A wurde sie sogar krank, als wäre unsere aufregende Reise einfach zu viel für sie gewesen.

Seither beschleicht sie Abend für Abend beim Einschlafen dieser Los-Angeles-Blues. Den ganzen Tag ist sie putzmunter, geht gerne zur Schule, radelt singend aus dem Freibad zurück. Aber sobald sie allein in ihrem Zimmer ist und einschlafen soll, beschleicht sie wieder dieses flaue Gefühl, das sie zum ersten Mal in der Stadt der Engel hatte. Dann kommt sie weinend die Treppe runter und ich muss mich an ihr Bett setzen, bis sie eingeschlafen ist. So geht das jetzt schon seit fast fünf Wochen.

"Die Seele der Kleinen ist noch in Amerika", sagt meine Fußpflegerin, die eine weise Frau ist. "Sie braucht einfach Zeit, bis sie wieder in ihrer Mitte ist. Fahren sie nächstes Mal lieber nach Dänemark. Meer, Dünen, Wind und Wald. Das ist das, was Kinder brauchen."

Nachdenklich schloss ich hinter der Fußpflegerin die Haustür. Da investiert man viel Geld und Flugmeilen, um seinen Kindern die Welt zu zeigen. Und dann soll das ein Fehler gewesen sein?

Ich habe mir deshalb für zukünftige Reisen einen Familien-Urlaubs-Check überlegt und unsere USA-Reise diesem Test unterzogen. Bei jedem Kriterium kann eine Reise maximal sechs Sternchen bekommen.


USA-Reise 2012

1) eine andere Kultur erleben, Fremdes kennenlernen                                 * * * * * *

2) als Familie intensiv zusammen sein                                                         * * * * * *

3) Natur erleben                                                                                           * * *

4) einmalige Erlebnisse und Abenteuer                                                        * * * * *

5) Eltern haben Zeit für sich und ihre Beziehung                                         *

6) die Kinder haben Zeit für sich

7) jedes Familienmitglied kann seinen Interessen nachgehen                       *

8) die Kinder lernen andere Kinder kennen und haben die                        
     Möglichkeit, Zeit mit ihnen zu verbringen
                           
9) Ruhe und Zeit zum Kraftschöpfen für alle                                                 *

10) eine andere Sprachen hören und sich darin erproben                               * * *

11) Möglichkeiten für die Kinder, sich auszutoben                                        *

12) die Interessen von Kindern werden berücksichtigt                                   * *

13) die Interessen von Erwachsenen werden berücksichtigt                           * * * * *



Dieser kleine Test zeigt, dass wir das nächste Mal einen Urlaub machen sollten, der die Kriterien 5), 6), 7), 8), 9) und 11) wieder stärker berücksichtigt. Also: mindestens zwei Wochen an einem Ort mit viel Natur, anderen Kindern und der Möglichkeit, sich ohne Aufsicht auszutoben.

Habt ihr Lust, Euren Urlaub in diesem Sommer meinem Urlaubs-Check zu unterziehen? Ich würde mich freuen, wenn ihr mir schreiben würdet, zu welchem Ergebnis ihr kommt und ob ihr Erkenntnisse daraus ziehen könnt. Danke!

Für mein Elterntraining hatte ich einmal auf einer Folie zusammengefasst, was Kinder und Jugendliche aus Sicht der Hirnforschung für eine gute Entwicklung brauchen, nämlich:


  • Zeit ohne Termine
  • Zeit ohne Unterweisung von Erwachsenen
  • Zeit ohne Medien
  • Bewegung
  • Kontakt zur Natur


Der Urlaub ist eine große Chance, ihnen davon viel zu bieten.


Immer schön fröhlich bleiben

Uta

PS: Gestern Abend waren mein Mann und ich noch aus und Prinzessin hat es geschafft, ohne Mamas Beistand alleine einzuschlafen. Jubel!

Wir danken dem Kuscheltier-Team unter der Leitung des großen Bären Stanislaus (Mitte) für seinen Einsatz vergangene Nacht.




Montag, 20. August 2012

Glückliche Familie Nr. 72: Beruf oder Berufung?


Neulich bei der Augenärztin machte ich an einem Gerät einen Sehtest. Mein Kinn lag auf einer Halterung, und während ich in den Kasten guckte, nahm die Sprechstundenhilfe Messungen vor und beschoss mich mit Fragen. "Schon einmal eine Brille getragen?" - "Kontaktlinsen?" - "Grüner Star in der Familie?" - "Chronische Krankheiten?"- "Beruf?"

Beruf?

So eine große Frage. Die kann man doch nicht einfach gegen ein Sehstärkenmessgerät werfen.
"Journalistin und Mutter"? Oder lieber "Mutter und Journalistin"? Klingt "Publizistin" besser? Vielleicht "Familienmanagement und Publizistik"? Das hört sich nach einem Unternehmen an mit geprägtem Schild im Aufzug und tiefen Sesseln am Empfang.

Ich kann doch nicht sagen, dass ich eine Journalistin bin, die sich hauptsächlich ihrer Familie verschrieben hat oder noch schlimmer "eine schreibende Hausfrau".

Wie wäre es mit    Private Relations and Public Affairs, Uta A.,Vice-President?      
                                                 
Beruf?

Da muss ich mein Kinn von der Halterung nehmen, dem Mädchen am Tresen tief in die Augen blicken und zurückfragen dürfen: "Meinen Sie Beruf oder Berufung? Wollen Sie meinen Kopf gleich in das nächste Gerät stecken oder haben Sie eine halbe Stunde? Wollen Sie die Kategorie für die Krankenkasse oder wollen Sie wissen, was meinem Leben Inhalt und Ziel gibt?"

Beruf?

Da ist jemand gerade 20, hat seine erste Stelle angetreten, hat abends ein Date mit jemanden, der noch nicht einmal weiß, ob er je Kinder möchte, und meint, einer Veteranin, gestählt im jahrzehntelangen Ringen um die Vereinbarkeitslösung, eine solche Frage entgegenschleudern zu dürfen.


Welche Sehstärke? Welches Auge? Welcher Beruf? 


Ich glaube, die meisten Frauen zwischen 28 und Ende 40, die mehr als die Hälfte ihrer Zeit in die Familie investieren, eiern herum bei der Frage: "Und was machst du so beruflich?"

Bei einer Party trafen mein Mann und ich einen Geschäftspartner meines Mannes und seine Frau. Die Männer vertieften sich in ein Job-Thema. Wir Frauen lächelten uns an. Wetterlage? Büfett-Qualität? Herkunft des Kleides? Der kleine Talk ist nicht meine Stärke. Also fragte ich, was sie so macht in ihrem Leben.
Aua.
Wie ein Kind, das ein Gedicht aufsagen muss, stellte sie sich gerade, schob die Brust raus und sagte: "Ich manage unser familiäres Kleinunternehmen", wirbelte auf ihrem Absatz herum und verließ den Raum.
Äh, ich mein doch bloß ... Ich bin doch auch ... Hallo? Sehe ich aus wie die Schwester von Ursula von der Leyen?

Das Leben von Müttern ist einfach bunt. Das lässt sich nicht reduzieren auf eine Rubrik in den Stellenanzeigen, egal, ob sie irgendwo angestellt sind oder freiberuflich arbeiten, egal, wie viel ihrer Zeit sie in die Familie investieren. Bei den wenigsten, die ich kenne, passt das, was sie tun, auf ein kleines Pappkärtchen.

Wozu der Frust, dass man uns nicht so leicht eine Stellenbeschreibung ans Revers hängen kann?

Mein Lieblingsautor zum Thema Zeitmanagement, Stephen R. Covey, sagt, man müsse den Anfang vom Ende her denken. Was sollen die Leute auf meiner Beerdigung über mich sagen? Wer soll alles dort sein? Was soll als der Inhalt meines Lebens beschrieben werden?

Wenn ich darüber nachdenke, dann komme ich auf keine Stellenbeschreibung, mit der ich auf Partys glänzen könnte. Am Ende sollte über mich gesagt werden, dass ich mein Bestes getan habe, um meinen Mann und meine Kinder zu unterstützen (es ist ein Fehler, schon morgens Wimperntusche zu tragen, schnief) und es sollte erwähnenswert sein, dass ich über die Familie hinaus, andere Menschen durch Schreiben und Coaching ermutigen konnte, ihr ganz eigenes Ding zu tun, und dass ich mein Leben in vollen Zügen genossen habe.

Das war jetzt rasant, oder? Vom Augenarzt über das Party-Gespräch bis ans Grab. Aber manchmal braucht es Umwege, um auf den Punkt zu kommen.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta 

Dienstag, 14. August 2012

Glückliche Familie Nr. 71: Der Elternautomat


Früher war es die Strickjacke, heute ist es der Fleece-Pulli. Jede Zeit hat ihr Besorgte-Mutter-Kleidungsstück.

Gerade haben wir wieder ein Klassenfest am Elbstrand gefeiert. Klassenfeste sind ein gefundenes Fressen für die Bloggerin. Selten hat man so viele Mütter, Väter, Kinder, Geschwisterkinder und so viele Momente, wo jemand erzogen werden soll, auf einen Haufen.

Als wir am Abend mit Sand zwischen den Zehen und mit der Erinnerung von Sonne auf der Haut wieder aufbrachen, war ich Zeuge davon, wie mehrere Mütter die Fleece-Pulli-Debatte führten. "Wo ist dein Pulli?" - "Keine Ahnung, im Rucksack?" - "Zieh ihn bitte an, bevor wir losradeln." - "Du bist verschwitzt, du wirst dich erkälten." - "Man, mir ist voll warm." - "Lisa, Lara, Ann-Sophie, Till, Tom, Jasper ... ich fahre nicht los, bevor ...."

Prinzessin (11) trug eine dünne Leggings, T-Shirt und Ballerinas. Ich trug Jeans, warme Strümpfe, Schnürstiefel, Bluse, Pulli und Trenchcoat.

Prinzessin hat eine große innere Hitze. Ich trage selbst im Sommer Socken im Bett.

Prinzessin und ich, wir geraten manchmal aneinander, aber nicht in Fleece-Pulli-Fragen.

"Oh, Prinzessin hat wohl beschlossen, dass jetzt Sommer ist", scherzte eine Mutter, die Pullis an ihre Kinder verteilte.

Prinzessin und ich guckten uns an. Das sind die Momente für "Immer lächeln und winken".

Ein neuralgischer Punkt in der Eltern-Kind-Beziehung ist neben der Erkältungsgefahr, die Gefahr, sich den Magen zu verderben. Mütter stellen eine Köstlichkeit neben der anderen auf den Tapeziertisch: Datteln im Speckmantel, selbst gebackene Minibaguettes, Schüsseln voller Weinbtrauben, herrlich klebrige Brownies, Süßigkeiten-Igel, deren Stachel sich biegen unter der Last von Weingummi und Lakritz. Wenn aber das eigene Kind in einer Spielpause angesaust kommt, um sich zu stärken, ergießen sich ökotrophologische Vorträge über das Kind. "Davon würde ich jetzt nicht so viel essen." -"Guck mal, hier sind auch Weintrauben." - "Nicht den Mäusespeck, du und Tim, ihr wollt doch heute im Garten zelten. Ich habe keine Lust, dass ihr mir ins Zelt spuckt." ....

Es ist die Dreifaltigkeit der Themen Anziehen, Essen und auch noch Schlafen, die vor allem bei uns Müttern anspringen lässt, was Jesper Juul den "Elternautomaten" nennt.

Wortreich dozieren wir über drohende Gefahren, wir klingen wie ein Text aus der Apotheken-Umschau, springen mit Mützen, Halstüchern und Hausschuhen hinter dem Nachwuchs her ... und handeln uns jede Menge Konflikte ein.

"Elternautomat" deshalb, weil wir wie auf Knopfdruck aktiv werden und die immer gleichen Phrasen abspulen.

Ich behaupte, wir hätten weniger Streit und bessere Ergebnisse, wenn wir häufiger innehalten und nichts sagen würden.

Stephen R. Covey entdeckte als Student in einem Buch den Satz:

"Es gibt einen Raum zwischen Reiz und Reaktion."

In seinem Hörbuch "Der Weg zum Wesentlichen" beschreibt Covey, wie bedeutsam der Satz in seinem Leben geworden ist.


Skulptur von Hilde Würtheim: "Innehalten" wäre mein Titel für dieses Werk


Im Umgang mit den Kindern hilft es mir sehr, den Raum zwischen Reiz und Reaktion bewusst zu machen. Meiner Beobachtung nach entstehen viele Konflikte zwischen Eltern und Kindern daraus, dass sie diesen Raum nicht nutzen.

  • Viel häufiger innehalten und nichts sagen. Ich erlebe immer öfter, dass meine Kinder fünf Minuten später von selber tun, was ich mir kurz vorher zu sagen verkniffen habe. 
  • Bei den Themen Essen, Sich-Anziehen und Schlafen nichts erzwingen. Es ist wichtig, dass die Kinder ein Gespür für ihre eigenen Bedürfnisse entwickeln und dafür Verantwortung übernehmen. (Kleine Kinder brauchen, was Essen und Schlafen angeht, ein klar strukturiertes Angebot und Führung, aber keinen Zwang oder Schimpfen!) 
  • Schon Babys kein Essen aufdrängen, sondern warten, ob es Signale gibt, dass sie noch einmal zulangen möchten Nie wieder "und noch ein Löffelchen für Onkel Dieter"! Die Nachkriegszeiten sind endgültig vorbei. 
  • Das berühmte Thema "Grenzen ziehen" gilt im Miteinander (Was du nicht willst, was man dir tut, das ...), aber nicht bei den Entscheidungen, ob jemand friert, schwitzt, Hunger hat oder müde ist. 
  • Bei wichtigeren Fragen ("Darf ich ohne Helm fahren?", "Darf ich in den Film ab 12, obwohl ich erst 11 bin?" ...)  ruhig sagen, dass man erst nachdenken, eine Nacht darüber schlafen oder es mit Papa besprechen muss. Das schafft Raum. Wenn man zu schnell reagiert, kann man oft nicht mehr zurück rudern.

In der Pubertät erntet man die Früchte des frühen Innehaltens. Ich habe manches "falsch" gemacht, aber der Fleece-Pulli-Debatte bin ich nicht in die Falle gegangen. Schon in der Grundschule habe ich es meinen Kindern überlassen, wie warm oder kalt angezogen sie das Haus verlassen wollten. Ich habe sie nicht gezwungen, eine Mütze aufzusetzen oder Handschuhe zu tragen. Das war auch nicht nötig, weil sie aus eigenen Stücken nach wenigen Metern zurückkamen, wenn es ihnen zu kalt war.
Heute - und da bin ich richtig stolz - fragen sie mich im Zweifel um Rat, was das richtige Kleidungsstück für die aktuelle Wetterlage ist. Streit haben wir deshalb nicht.


Immer schön innehalten und fröhlich bleiben

Uta

Sonntag, 12. August 2012

Glückliche Familie Nr. 70: Der Sandwich-Toaster


Alle Kinder hassen den Satz "Ach, bist du groß geworden!" und alle Erwachsenen sagen den Satz "Ach, bist du groß geworden!"

Bei unseren Kindern ist das aber wirklich so :-). Irgendjemand hat beide auf einen Schlag aus dem Kindergarten in die Pubertät katapultiert.
Kronprinz (14) spricht jetzt wie Ivan Rebroff, und wenn ich in seinem Zimmer rumstehe und sage, er möchte endlich seinen Saxophonlehrer anrufen, klemmt er mich einfach unter den Arm und stellt mich in den Flur.

Prinzessin (11) wurde neulich von einer Verkäuferin für 15 gehalten. Dabei hat sie eine Mutter, der man im Alter von 19 Jahren bei Karstadt ohne Ausweis keine Weinbrand-Bohnen verkaufen wollte. Und als ich als Studentin mit einem Stift in der Hand Zeugen Jehovas die Tür öffnete, beugten sich die beiden Männer in den schwarzen Anzügen leicht zu mir hinunter und fragten: "Na, machst du gerade deine Hausaufgaben?"

Ich will damit sagen, dass ich von meiner Biographie her in keiner Weise darauf vorbereitet bin, zwei Kinder zu haben, die wachsen, als würde ich ihnen Blaukorn ins Müsli streuen.

Auch mein Mann mault in zunehmender Verzweifelung: "Kann irgendjemand mal auf die Bremse treten?"
Wenn er zu Hause ist, steht er die halbe Zeit mit ausgebreiteten Armen in der Gegend herum und wartet, ob jemand hineinrennt oder -springt.
Wenn er auf dem Teppich vor dem Fernseher liegt und Olympia guckt, hat er rechts ein Bein von Prinzessin und links ein Bein von Kronprinz und kratzt und krault und streichelt, bis die letzte Hymne verklungen ist.

"Aber es iss ja wie et iss!", sagt die kluge Steffi immer bei "Frühstück bei Stefanie" auf NDR 2, wenn Opa Gehrke in ihrem Stehimbiss über Politik mault.

Mein Mann und ich haben in diesen Zeiten der Turbo-Pubertät beschlossen, das Beste daraus zu machen, und uns überlegt, wie wir die Zeit mit unseren beiden am besten genießen können.

Was machen Teenager noch gerne mit ihren Eltern zusammen? Wir kamen auf DVD-Gucken, haben unseren Uralt-Fernseher rausgeschmissen und einen XXL-Flachbildfernseher angeschafft. Heimkino macht jetzt richtig Spaß.

Der neueste Renner aber ist unser Sandwich-Toaster. Ich weiß nicht warum, aber der Geruch von geschmolzenem Käse scheint Jugendliche anzuziehen wie Vampire die Witterung von frischem Blut.

Nachdem ich zusammen mit einem netten Verkäufer in einem Elektro-Fachhandel mit dem Zeigefinger die Pfännchen-Beschichtung mehrerer Geräte im Doppel-Blind-Versuch getestet habe, entschied ich mich für ein Gerät für knapp 50 €. Dieses hier:





Das Ding ist bei uns eingeschlagen wie eine Bombe. Die Kinder machen sich abwechselnd mit ihren Freunden ein Sandwich. Kronprinz hat sich in aller Form für diese Anschaffung bedankt. Mutter kauft nun Käse in "Wallace-und-Gromit"Mengen. ("Ahhhh, Kääääääääse!") und auch ein Spiegelei in der trendigen Dreiecks-Form ist schnell gemacht. Nach dem Abkühlen ist der Toaster bald ausgewischt und kann hochkant in den Schrank gestellt werden.

Bevor die Kinder ausziehen, immer schön fröhlich toasten

Uta

Mittwoch, 8. August 2012

Glückliche Familie Nr. 69: Die Vereinbarkeits-Lüge


Gestern las ich in der Zeitung einen Artikel über eine Frau, die zusammen mit ihrem Mann eine Immobilienfirma besitzt. Beide sind voll berufstätig. Er kümmert sich um "Strategie und Marketing", sie um das "operative Geschäft". Das Paar lebt mit seinen drei Söhnen vor den Toren Hamburgs. Die beiden Jüngsten, Zwillinge, reiten gerne und tun dies auf dem hauseigenen Parcours. Als die Kinder ganz klein waren, beschäftigte die Familie ein Au-Pair-Mädchen aus Guatemala. "Drei Kinder kommen innerhalb von zwei Jahren auf die Welt", heißt es in dem Artikel. "Eine Pause vom Beruf hat Kirsten D. nie eingelegt. Sie schafft seit Jahren den Spagat zwischen Karriere und Familie."

Ich finde es total wichtig, dass wir Frauen uns nicht gegenseitig niedermachen. Karrierefrau gegen Hausmütterchen - pah, völlig überholt dieser Konflikt. Stutenbissigkeit war nie mein Ding. (Bleck die Zähne!)

Wir sollten zulassen, dass jede von uns anders tickt. Dafür haben wir schließlich die Postmoderne.

Und Neid? Neidisch auf eine Frau, die sich mit ihrem Jil-Sander-Blazer abends erschöpft, aber glücklich an das Pony-Gatter lehnt und ihren Immenhof-Buben zuwinkt?

Ich doch nicht.

Das Blut der Himbeere spritzt an den Rand der Müsli-Schale. So heftig habe ich meinen Löffel in die Schüssel gestoßen.



Jetzt mal ehrlich, bin ich wirklich neidisch?

Ein bisschen. Schließlich sieht die Karriere-Kirsten auf dem Foto gut aus, nett, sogar warmherzig, könnte eine Freundin sein. Sie lehnt sich in ihrem schicken Büro in einen sandfarbenen Designsessel. Und sie hat bei all dem auch noch ein Kind mehr als ich. Grrrrrrrrrrrrrrrrr.

Übrigens musste ich vor fünf Zeilen das Schreiben unterbrechen, weil unser Kater sein Frühstück in den Flur erbrochen hatte.
Jetzt müsst ihr noch einmal warten, weil ich Wäsche aufhängen muss. Die wird nämlich- wie ich neulich las - zum Bakterien-Treffpunkt, wenn ich sie noch länger nass in der Waschmaschine liegen lasse.

Hat Kirsten D. in ihrem sandfarbenen Sessel auch solche Unterbrechungen?

Nein, hat sie nicht, weil sie den Haushalt und die Kinderbetreuung, weil sie das Kümmern und Sorgen, das Präsentsein und Einspringen deligiert hat an andere Menschen.

Eine Familie mit zwei voll berufstätigen Eltern, drei Kindern, eigenem Haus und Ponys braucht
  • einen gut funktionieren Hort oder eine Ganztagsschule mit warmem Mittagstisch
  • eine Haushälterin oder mindestens eine Putzhilfe, die mehrmals pro Woche kommt
  • am besten noch ein oder zwei Omas oder eine wohlmeinende Nachbarin
  • auf jeden Fall jemanden, der die Kinder zum Fußball-Training oder zum Kieferorthopäden fahren kann, wenn es aus Kübeln gießt
  • jemanden, der von jetzt auf gleich bei einem Kind bleiben kann, wenn es krank ist
  • jemanden, der wartet, bis der Tierarzt kommt, weil eines der Ponys eine Kolik hat
  • jemanden, der wartet, bis der Handwerker vorfährt, weil die Heizung nicht anspringt, ein Abfluss  verstopft ist, das Dachfenster nicht schließt
  • jemanden, der bei den Hausaufgaben helfen kann
  • einen Nachhilfelehrer
  • jemanden, der ein Fahrrad reparieren oder es zur Reparatur bringen kann
  • einen Gärtner für das Gröbste
  • andere Mütter und Väter, die ehrenamtlich in Schulkantinen, Sportvereinen, als Schülerlotsen oder Chauffeur eines Kindertaxis arbeiten

Von all dem in dem Artikel kein Wort.

Erwähnt wurde nur
  • das guatemaltekische Aupair-Mädchen (so jemand bleibt nur ein Jahr und hat den halben Tag Sprachunterricht) 

Es ist diese Verschleierung von Arbeit, die mich auf die Himbeere einstechen ließ. 

Es ist die Vereinbarkeits-Lüge, die mich auf die Palme bringt. 

Lasst uns doch ehrlich sagen, wie viel Arbeit es macht, wenn Kinder gut betreut werden sollen und was es kostet, wenn man es deligiert.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta 

Montag, 6. August 2012

Glückliche Familie Nr. 68: Ausflugsmuffel


Ich weiß, wie pädagogisch wertvoll Ausflüge sind. Aber die "glückliche Familie" ist eine Familie von Ausflugsmuffeln.

Ich habe einen Ordner voller Ausschnitte mit Ausflugstipps: Fahrt mit dem Dampf-Eisbrecher, Ozeanum in Stralsund, Sonnenuntergang auf Neuwerk, Speicherstadtmuseum in Hamburg, Barfußpark in Egestorf , Nachtwächterführung, Impressionistenausstellung, Minigolf im Dunkeln, Minigolf im Hellen... Tolle Sachen!


Unser Ausflugs-Ordner ist der links mit dem Kapitän.




Der Ordner ist voller Tipps. Und die Tatsache, dass ich die Zeitungsausschnitte alle gesammelt und abgeheftet habe, gibt mir ein gutes Gefühl.
Eines Tages könnten wir eine Familie sein, die Ausflüge macht, sich voller Eifer über Vitrinen mit alten Scherben beugt, die Kinder in die Arme schließt, wenn sie mit selbst gemeißelten Steinzeit-Werkzeugen aus der museumspädagogischen Werkstatt kommen, eine Familie mit Kindern, die am Montag ihrer Lehrerin das selbst geschöpfte Papier aus dem Freilichtmuseum zeigen und Geweihreste aus dem Wildpark höher schätzen als I-Tunes-Gutscheine.

Eine solche Familie sind wir nicht. Und diese Entwicklung nahm ihren Anfang, als ich etwa zehn Jahre alt war und mit dem Kinderchor ins Phantasia-Land bei Köln fuhr.
Ich will dem Phantasia-Land nicht unrecht tun. Und Prinzessin (11) würde dort lieber hinfahren als in jedes Museum. Aber für mich als Kind war die Sache schon gelaufen, wenn ich in einen Reisebus einsteigen musste. Ich mochte die ganze Szenerie nicht: Ein zu seinen Fahrgästen zwanghaft jovialer Busfahrer, andere Kinder mit braun werdenden Apfelachteln in Tupperdosen, klebrigen Bonbons und Hohes-C-Saftpacks, die - kaum waren sie eingestiegen - in die Tasche des Vordersitzes gestopft wurden. Mit dieser Süßigkeiten-Schaukel wurde ich in eine Welt gefahren, die ich schon als Kind als völlig künstlich empfand.  Gut, Wildwasserbahnfahren, das mochte ich. Da wurde man nass, das hatte was Echtes, das war erfrischend. Und das Element Wasser verhindert, dass man zu schnell um Achsen gedreht wird, die man an sich noch nicht kannte. Aber die übrigen Fahrgeschäfte ertrug ich nur, um vor dem Sohn des Chorleiters mein Gesicht nicht zu verlieren.
Ich verlor es nicht, aber es war grün. Und das wurde auch nicht besser, als ich wieder auf die Kopfstützen-Schoner aus beigefarbenen Polyesterpique im Reisebus starrte. Ich wollte nur zwei Dinge: zu Hause ein Kotelett mit Gurkensalat essen und in unserem Garten unter der Clematis bewachsenen Pergula schaukeln.

Jetzt wisst ihr, warum wir uns mit Ausflügen schwer tun.

Gestern aber hatte ich beschlossen, es sei Zeit, mal wieder etwas zu unternehmen. Wir einigten uns darauf, ein 300 Jahre altes Fischerhaus zu besichtigen, das von uns aus sogar mit dem Fahrrad zu erreichen ist. Und ich habe noch nicht gehört, dass jemand auf einem Fahrrad schlecht wurde.

Die Begeisterung hielt sich trotzdem in Grenzen. Prinzessin fragte, wie lange das Unternehmen dauern werde. Das macht sie immer. Sie hält Ausflüge besser aus, wenn sie weiß, wann sie danach ihr eigentliches Leben wieder aufnehmen kann.
Mein Mann pumpte die Fahrräder auf, Kronprinz (14) suchte seinen Haarwachs der Marke "Strandmatte", Prinzessin ihre Schuhe. Ich war schon aus dem Haus, als mir einfiel, ich sollte besser  einen Pullover mitnehmen. Ich saß schon auf dem Fahrrad, als ich noch einmal rein musste, um das Fenster im Bad zu schließen, und dabei Kronprinz anrempelte, der seiner "Strandmatte" noch die richtige Ausrichtung gab.
Ich weiß nicht, wie es große Familien schaffen, zügig das Haus zu verlassen. Meine älteste Schwester hat fünf Kinder und ist ausflugsfreudig. Wenn ich mit einer solchen Kinderschar etwas unternehmen wollte, müsste das erste Kind schon wieder auf die Toilette, wenn das Letzte gerade fertig ist.

Im Fischerhaus-Museum war es schön.




Als ich nach unserer Rückkehr (nach einer Stunde und 57 Minuten, liebe Prinzessin) mit meinem Mann bei Kaffee und Butterkuchen saß, sagte ich, dass wir ganz in Ruhe größere Ausflüge machen könnten, wenn die Kinder aus dem Haus seien. "Ach", meinte er und schaute versonnen in unseren Garten, "eigentlich sind Ausflüge ja nicht so mein Ding."

Immer schön fröhlich bleiben

Uta

Donnerstag, 2. August 2012

Glückliche Familie Nr. 67: Das Sorgen-Abo


Am Gartenzaun sprach ich mit meiner Nachbarin von gegenüber. Sie hätte da noch eine Frage, sagte sie und die zarte Falte zwischen ihren Augenbrauen geriet zum Canyon. "Nils", seufzte sie und machte eine Pause, als sei das nicht der Name für ihr Kind, sondern eine Diagnose.

Nils, über den sich schon die Kindergärtnerin wegen seines Schimpfwortschatzes beklagte.
Nils, über den eine Ergotherapeutin einen Bericht schrieb, der den Eltern die Tränen in die Augen trieb.
Nils, dessen Mutter von einem Professor für Kinderheilkunde den Rat bekam, die Ergotherapeutin zum Teufel und den Jungen zum Toben auf den nächsten Baum zu schicken.
Nils, der normalste Junge der Welt.

"Ich mache mir Sorgen wegen Nils in der Schule", sagte Martina. Er habe ja jetzt sein erstes Zeugnis bekommen und da stehe drin, dass er unruhig sei und besser zuhören müsse. Und die Lehrerin hätte auch gesagt, dass sie Nils alles zweimal sagen müsse.

Ich wollte meiner Nachbarin schon auf das Heftigste die Hand schütteln und sie im Club der Normale-Jungs-Eltern begrüßen. Aber Martina war nicht nach Feiern zumute.
Und lesen wolle Nils auch nicht freiwillig. Immer müsse sie eine Belohnung in Aussicht stellen, damit er mal zwei Seiten lesen würde. Das klang so richtig nach Spaß und ich hatte Lust, mit Nils starke Ritter mit Riesenschwertern in langweilige Erstlese-Bücher zu kritzeln.
Neulich war ich mit Kronprinz (14) in Hamburg in einer Fotoausstellung. Dort lief ein kleiner Film, in dem ein Künstler ein aufgeschlagenes Buch mit Schlamm bestrich, Kiesel darauf kippte, das alles festkloppte und wieder abkratzte. Das ergab einen sehr schönen Effekt. Nils hätte das gefallen.

Es gibt eine unter Eltern weit verbreitete Krankheit: die Sorgeritis.

Die Krankheit kann auftreten, selbst wenn Menschen körperlich gesund und von den prächtigsten Kindern umgeben sind.

Symptomatisch ist, dass sie klagen, ihr Kind sei
  • in der Schule schlecht
  • in der Schule gut und werde deshalb gemobbt
  • habe keine Freunde
  • habe die falschen Freunde
  • schlafe zu lange, zu wenig, zu unruhig, nicht bei anderen
  • treibe keinen Sport, habe nur Fußball im Kopf
  • esse zu wenig, esse zu viel, zu viel Süßes, zu viel Salziges ...
  • sei hochbegabt und unterfordert 
  • bewege sich zu viel, zu wenig, zu hektisch ...

Wenn die eine Sorge sich erledigt hat, tanzen wir dann durch den Garten, schmeißen wir eine Party, kitzeln wir die Kinder durch und freuen uns ein Loch ins Bein?

Nein, wir suchen uns schnell die nächste Sorge. Manche Leute leben als hätten sie ein Sorgen-Abo. Pünktlich wie die Zeitung morgens holen sie die nächste Sorge aus dem Kasten.


So kann Leben auch sein.

Vor mehr als einem Jahr lebte ich wenige Wochen in der Sorge, ernsthaft krank zu sein. Wenn die Diagnose sich nicht bestätigen würde, dann würde ich es in meinem Leben mit meinen Lieben so richtig krachen lassen, schwor ich mir eines nachts.
Die Diagnose hat sich nicht bestätigt. Ich hüpfte kerngesund aus der Praxis und umarmte und beschenkte den ersten Obdachlosen, der mir unten auf der Straße begegnete.

Und heute? Lasse ich es so richtig krachen?

Na, zwischendurch krächelt es eher, selber schuld.

Bei Wolfgang Herrndorf, dem Autor des Romans "tschick" (den Kronprinz verschlungen hat und ich noch unbedingt lesen will), wurde 2010 ein Hirntumor entdeckt. Auf die Frage, wie er mit der Krankheit umgehe, antwortete er in einem Interview: "Die Sonne geht immer hinter der nächsten Düne unter."

Der Satz hat mich umgehauen.

Und damit wir Kinder nicht mit unseren vermeintlichen "Sorgen" erdrücken, zeige ich euch noch mal dieses kleine Video. Ich hatte es reingestellt, als ich drei Leser hatte. Deshalb haben einige es vielleicht noch nicht gesehen.

Immer schön fröhlich bleiben

Uta